Sintenis, Wilhelm Franz |
S. entstammte einer über mehrere Generationen der Aufklärungstheologie verpflichteten anhaltischen Theologenfamilie. Er wurde von seinem Vater, dem evangelischen Pfarrer Johann Christian Sigismund S., selbst unterrichtet, bevor er ab 1804 die Klosterschule in Zerbst besuchte, die er 1811 verließ, um an der Universität Wittenberg evangelische Theologie zu studieren. Infolge kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen französischen und preußischen Truppen mußte er das Studium 1813 abbrechen, wurde im März 1814 unter die Kandidaten des Predigeramtes in Köthen aufgenommen und war dort zunächst als Hauslehrer sowie von Ostern 1817 bis Herbst 1818 als Inspektor des Schullehrer-Seminars und der Armenschule tätig. Ende 1818 seinem Vater im Predigeramt in Roßlau adjungiert, avancierte S. 1821 zum Inspektor der Schulen der Stadt Roßlau. Anfang 1824 wurde er durch Gemeindewahl zum zweiten Prediger der Heilig-Geist-Kirche zu Magdeburg berufen und trat hier 1831 in die erste Predigerstelle ein. Besondere Bedeutung erlangte S. 1840 als Auslöser des sogenannten “Magdeburger Gebetsstreits”, der in kurzer Zeit zu einer Polarisierung zwischen rationalistischen Theologen und Vertretern der neupietistischen Orthodoxie in Magdeburg mit weitreichenden Folgen führte. S. nahm im Februar 1840 an einem in sentimentalem Ton verfaßten Gedicht Wilhelm Ribbecks Anstoß, das dieser, bezogen auf eine vom Magdeburger Kunstverein verbreitete Lithographie, in der Magdeburgischen Zeitung publiziert hatte. Das im Gedicht empfohlene Gebet zum “lieben Heiland Jesus Christ,/der aller Not Erbarmer ist”, kritisierte S. in einem Zeitungsartikel als unevangelisch, da allein Gott dem Vater Anbetung zukomme, und provozierte damit eine mit scharfer Polemik geführte Reaktion Magdeburger Prediger wie auch des Magdeburger Konsistoriums unter Bischof Bernhard Dräseke. S.’ Widerstand gegen die nachfolgend ausgesprochene konsistoriale Rüge, die angedrohte Amtsenthebung und das Publikationsverbot mobilisierte nicht nur das Kirchenkollegium der Heilig-Geist-Kirche unter Leitung des Gerichtsassessor Ämil Funk, einen großen Teil der Gemeinde und die Magdeburger Öffentlichkeit, sondern auch den Magdeburger Magistrat unter August Wilhelm Francke, der die protestantische Lehrfreiheit bedroht sah und beim Ministerium intervenierte. Die Haltung und das Vorgehen des Konsistoriums gegen S. wurden von der rationalistischen Pfarrerschaft als Affront gewertet und gaben 1841 den Anstoß zur Bildung der innerkirchlichen Oppositionsbewegung der protestantischen Freunde (“Lichtfreunde”) unter der Führung Leberecht Uhlichs. S. hielt sich dabei zunächst im Hintergrund, bemühte sich vielmehr verstärkt um die Etablierung der Gustav-Adolph-Vereine in der Region und griff erst 1846 nach polizeilichen Repressalien gegen Uhlich und die Lichtfreunde-Bewegung wieder mit scharfen Streit- und Parteischriften gegen den restaurativen kirchenpolitischen Kurs Johann Friedrich Moellers in die literarischen Auseinandersetzungen ein. An der Gründung einer oppositionellen Freien Gemeinde in Magdeburg beteiligte er sich jedoch nicht und stand auch den bürgerlich-demokratischen Bestrebungen nach 1848 zurückhaltend gegenüber. S. blieb mit Unterstützung eines Großteils seiner Gemeinde mehr als 30 Jahre im Amt und wurde erst 1855 infolge einer Generalkirchenvisitation pensioniert.
Werke: Vier Predigten in der Kirche zum Heiligen Geist in Magdeburg am 16. und 23. Februar, 1. und 8. März 1840 gehalten, 1842; Die Sache der Gustav-Adolph’s-Vereine nach ihrem Ursprung und Zweck und nach ihrer Nothwendigkeit und Rühmlichkeit dargestellt, 1844; Möller und Uhlich. Beleuchtung des Möller’schen Schriftstücks Nr. 7, 1847; Dr. J. F. Möllers Wirken im Consistorium und in der Generalsuperintendentur der Provinz Sachsen, 1849.
Literatur: ADB 34, 406–408; BBKL 10, Sp. 527–529; RGG 6, 31962, 49; N. N., Bemerkungen an den Herrn Bischoff Dr. Dräseke etc., in: Neuer Sophronizon 2, 1841, 149–235, 267–401; N. N., Schriften über die S.sche Angelegenheit, in: Allgemeines Repertorium für theologische Literatur und kirchliche Statistik 43, 1843, 1–31; Johann Karl Ludwig Gieseler, Lehrbuch der Kirchengeschichte, Bd. 5, 1855, 250ff.; Kurt Haupt, Der Magdeburger Bilderstreit im Jahre 1840 auf Grund des Aktenmaterials dargestellt, in: MonBl 73, 1931, 313–315, 323–325; Martin Friedrich, Die preußische Landeskirche im Vormärz, 1994.
Guido Heinrich