Uhlich, Johann Jacob Markus Leberecht |
Schon während der Schulzeit in Köthen wurde U. durch seinen Lehrer frühzeitig so vom Kantschen Rationalismus begeistert, daß er sein Theologiestudium bewußt in Halle, der Hochburg des theologischen Rationalismus in Deutschland, absolvierte. Diesen Rationalismus verinnerlichte U. so tief, daß er zeitlebens Richtschnur seines Denkens und Handelns blieb. 1820– 24 war U. Volksschul- und Privatlehrer in Köthen. 1824 erhielt er die erste Pfarrstelle in Diebzig/Anhalt, ehe er 1827 ins preußische Pömmelte bei Schönebeck wechselte. Schon in dieser Zeit war seine Seelsorge nicht nur konsequent rationalistisch ausgerichtet, sondern mit viel Skepsis beobachtete er die Angriffe der staatlich unterstützten orthodoxen Pietisten gegen seine Glaubensauffassung, die im sogenannten “Magdeburger Bilderstreit”, während dessen der rationalistisch ausgerichtete Pfarrer Wilhelm Franz Sintenis aufgrund seiner Kritik an einem Bild mit sentimentaler Christusanbetung überdurchschnittlich hart diszipliniert wurde, einen ersten Höhepunkt fand. Dem wollte U. entgegentreten und gründete am 29.06.1841 in Gnadau bei Schönebeck mit 16 Gleichgesonnenen den Verein der Protestantischen Freunde – im Volksmund “Lichtfreunde” genannt. Durch U.s unermüdliches Ringen gewann die “Lichtfreunde”-Bewegung rasch Konturen und Masseneinfluß, denn die Lehre sprach nicht nur das sich emanzipierende Besitz- und Bildungsbürgertum, sondern aufgrund der ihr innewohnenden solidarisch- demokratischen Tendenz sowie karitativen Verpflichtung auch die Mittel- und Unterschichten an. Mitte der 1840er Jahre hatten sich dank U.s unermüdlichem persönlichen Einsatz und seiner reichen Publikationsarbeit – vor allem in den seit 1842 von ihm herausgebrachten Blätter für christliche Erbauung – überall in Provinzialsachsen, aber auch darüber hinaus, Vereine der “Lichtfreunde” gebildet, und seit 1842 fanden zweimal im Jahr unter U.s Leitung sogenannte Hauptversammlungen in Köthen statt, um der preußischen Restriktion auszuweichen. Als sich die Bewegung Mitte der 1840er Jahre zur Opposition mit einer deutlicher werdenden politischen Tendenz entwickelte, die mit Gustav Adolph Wislicenus aus Halle an der Spitze auch noch einen radikaleren und offen demokratisch-aktionistischen Flügel bildete, sah dies U. zunächst mit einiger Sorge, fürchtete er doch nicht nur die Differenzierung und Spaltung der Bewegung, sondern vor allem die staatliche und kirchenbehördliche Gegenreaktion, die mit dem Verbot aller Lichtfreundeversammlungen am 10.08.1845 auch folgte. Besonderes Ansehen genoß U. aber inzwischen beim liberalen Bürgertum Magdeburgs, das die “Lichtfreunde”-Bewegung unter den politischen Restriktionsbedingungen des vormärzlichen Preußens als kryptopolitische Ersatzbewegung nutzen wollte und nach deren Vorbild seit August 1844 selbst eine Bürgerversammlung ins Leben gerufen hatte. Gegen erheblichen Widerstand des Konsistoriums setzte es schließlich durch, daß U. die vakante zweite Predigerstelle an der Katharinenkirche in Magdeburg ab 01.10.1845 erhielt. In stets überfüllten Gotteshäusern vor einem begeisterten Publikum hielt U. Predigten, in denen er zunehmend Kritik am preußischen Staats- und Kirchensystem übte. Er beteiligte sich darüber hinaus verstärkt am bürgerlichen Vereinsleben, vor allem in der Bürgerversammlung, im Gewerbe- und Bildungsverein und im Gustav- Adolph-Verein. Seine rationalistisch-liberale Haltung faßte er 1845 in seinen “Bekenntnissen” zusammen, die nicht nur die evangelische Provinzialsynode 1845 in Magdeburg, sondern auch die preußische Generalsynode 1846 spürbar beeinflußten. Seit Oktober 1846 hielt U. – nach Pömmelter Vorbild – wieder “Abendversammlungen” in seinem Hause ab, die wegen der offenkundigen oppositionellen Tendenz schon am 20.12.1846 polizeilich verboten wurden, so daß U., getragen von der Welle der Sympathie in der Stadt, seine Zurückhaltung endgültig aufgab und nun demonstrativ durch ständige Liturgieverletzungen den Konflikt mit dem Konsistorium anheizte, der nach monatelangen Disziplinaruntersuchungen schließlich in der Amtsenthebung U.s am 13.09.1847 endete. Als der König persönlich die von den Stadtverordneten, dem Magistrat und den Kirchenältesten gemeinsam verfaßte Bitte um Revision dieser Entscheidung mit dem Verweis auf das Religionspatent vom 30.03.1847 ablehnte, trat U. mit 116 engeren Anhängern demonstrativ aus der preußischen Landeskirche aus und gründete die Freie Gemeinde Magdeburg, die Anfang 1848 mit ca. 8.000 Mitgliedern die größte und bedeutendste in ganz Deutschland war. Als der Konsistorialpräsident Karl Friedrich Göschel und der Polizeipräsident Ludwig von Kamptz daraufhin versuchten, die Freie Gemeinde und U. auszuschalten, spitzte sich die Anfang 1848 schon angespannte Lage in der Stadt so weit zu, daß am 15./16.03.1848 die Revolution auch in Magdeburg ausbrach. Symbolfigur des Aufstandes war U., der am 18.03.1848 das bereits im September 1847 von den liberalen Stadtverordneten beantragte, aber vom Oberbürgermeister August Wilhelm Francke zunächst abgelehnte Ehrenbürgerrecht erhielt. Mit dem Mandat des Kreis Neuhaldensleben – U. wurde auch Ehrenbürger der Stadt Haldensleben – zog U. 1848 in die Preußische Verfassungsgebende Versammlung ein und gehörte als Verfechter einer konstitutionellen Monarchie mit ausgeprägten Volksrechten dem linken Zentrum an. Aber sowohl in Berlin als auch in Magdeburg, wo er auch im Revolutionsjahr 1848 häufig weilte, um über den politischen Fortgang im Parlament in Berlin zu berichten, sah sich U. zunehmend in einer komplizierten “Zweifrontenstellung”. Einerseits trat er konsequent für die politischen und sozialen Rechte aller, auch der unteren, Volksschichten ein, andererseits lehnte er jede Form radikalen Umsturzes und Aktionismus ab. In Magdeburg mußte U. 1848 erfahren, daß sich ein Großteil des liberalen Besitzbürgertums von ihm abwandte, während ihm die proletarischen Unterschichten weiterhin begeistert folgten, was er nach der Auflösung des Parlaments bei seiner Rückkehr nach Magdeburg besonders spürte, als er sich zur Abwehr der heraufziehenden Konterrevolution zusammen mit Weggefährten der Freien Gemeinde und der Bürgerversammlung dem im Dezember 1848 gegründeten Verein zur Wahrung der Volksrechte anschloß. Nach dem Scheitern der Revolution 1848/49 geriet der enttäuschte U. unter den politischen Druck der Reaktion und wurde mehrfach verurteilt, u. a. wegen Majestätsbeleidigung, und inhaftiert. Seine Freie Gemeinde, in die U. sein gesamtes Privatvermögen investiert hatte, wurde nach jahrelangen Prozessen 1856 als “Politischer Umsturzverein” verboten und konnte auch nach der Wiederbelebung 1859 nicht mehr die Bedeutung der Vormärzzeit erlangen. All diese Angriffe und Enttäuschungen zermürbten den gealterten und verarmten U., der sich zunehmend in seine rationalistische Religiosität zurückzog. In der Nachrevolutionszeit verfaßte er noch zahlreiche vor allem pädagogische und religiöse Schriften und engagierte sich in Magdeburger Bildungs- bzw. später Arbeiterbildungsvereinen. U. starb als ein nur noch von wenigen Magdeburgern ehrfurchtsvoll als “Vater U.” betitelter Mann. Seine letzte Ruhestätte fand er in dem unter Oberbürgermeister Francke angelegten Nordfriedhof neben vielen Honoratioren der Stadt.
Werke: Bekenntnisse, 1845; 10 Jahre Magdeburg 1845–1855, 1855; Eine Selbstbiographie, 1868; Sein Leben von ihm selbst beschrieben, 1872.
Nachlaß: StadtA Magdeburg.
Literatur: ADB 39, 171–173; BBKL 12, Sp. 837-841; Mitteldt Leb 2, 187–198; Jürgen Engelmann, L. U., in: Mathias Tullner (Hg.), Persönlichkeiten der Geschichte Sachsen-Anhalts, 1998, 462–468 (B).
Bildquelle: *StadtA Magdeburg.
Jürgen Engelmann
letzte Änderung: 19.08.2004