Nathusius, Philipp Engelhard von (seit 1861)
geb. 05.11.1815 Althaldensleben,
gest. 16.08.1872 Luzern,
Unternehmer, Stifter, Herausgeber, Journalist.

Als Sohn des Unternehmers Johann Gottlob N. wuchs N. im Kreis seiner sieben Geschwister auf dem väterlichen Gut auf. Durch Hauslehrer wie sein älterer Bruder Hermann vorwiegend in naturwissenschaftlichen Fächern unterrichtet, sollte er auf die Leitung der Betriebe vorbereitet werden. Sein Interesse galt jedoch früh der Literatur, Geschichte und Philosophie. Nahezu die gesamte Bandbreite der Neuerscheinungen nahm er in sich auf und verarbeitete das Gelesene in subjektiven, weniger mit Vernunft und Systematik als mit Empfindung und Gefühl urteilender Innerlichkeit in Tagebuchnotizen, Briefen und zwei Gedichtbändchen. Seine romantische Sehnsucht nach Freiheit sah er im Liberalismus verwirklicht. Begeistert übersetzte er Berangers Lieder ins Deutsche, und als 1835 Bettine von Arnims “Briefwechsel mit einem Kinde” erschien, gehörte N. zum Kreis ihrer Jünger und wurde der von ihr am meisten geschätzte. Sechs Monate lebte er in Berlin, übernahm die Korrektur der zweiten Ausgabe ihres “Goethebuches” und fand Zutritt zu den romantisch-liberalen Kreisen. Auf Drängen der Familie kehrte er 1837 nach Althaldensleben zurück. N.’ Briefwechsel mit von Arnim, von ihr später unter dem Titel “Ilius Pamphilius und die Ambrosia” veröffentlicht (s. Werke, Bd. 3, 1995), spiegelt seine anschließende Wendung zu einer religiös-pietistischen Haltung, die 1841 in die Ehe mit Marie N. mündete, und – nachdem er als Gutsbesitzer im Revolutionsjahr 1848 die Interessen seines Standes gegen die Lohnforderungen seiner Fabrikarbeiter mit “polizeylicher Gewalt” durchgesetzt hatte – einen national-konservativen Charakter annahm. Unglücklich in seiner Rolle, übertrug er 1849 sein Gut dem jüngeren Bruder  Heinrich v. N. Wenige Monate später übernahm er die Redaktion des 1844 zur Abwehr des Lichtfreundtums im Kreis der Halleschen Pietisten gegründeten Volksblattes für Stadt und Land und machte sie sich zur Lebensaufgabe. Nahezu zeitgleich fand auch sein soziales Engagement, welches während seiner liberalen Phase u. a. durch Unterstützung der “Göttinger Sieben” und als Gutsbesitzer durch Gründung zweier kleiner Rettungshäuser hervorgetreten war, eine endgültige Form. 1850 rief er in Neinstedt ein Knabenrettungs- und Brüderhaus, den “Lindenhof”, ins Leben, dessen äußere Leitung er als Vorsteher übernahm, während die konkrete Erziehungsarbeit und Brüderausbildung einem “Inspektor”, aus Wicherns Rauhem Haus geholt, anvertraut wurde. Damit schloß er sich an die seit dem Kirchentag von 1848 in die Öffentlichkeit getretene konservative soziale Bewegung der Inneren Mission an. Ab 1851 gehörte er deren Zentralrat an und wurde u. a. näher mit Ludwig von Gerlach bekannt. Bis zu seinem Tod stellte er sich mit Volksblatt und “Lindenhof” in den Dienst der Inneren Mission und trug wesentlich zu ihrer Ausbreitung und Festigung bei. 1861 wurde er dafür geadelt. In seiner Frau fand er vor allem bei der journalistischen Tätigkeit tatkräftige Unterstützung. Nach Maries frühem Tod (1857) gab er eine umfangreiche Sammlung ihrer Schriften heraus und ließ sie in Form eines romantisierenden Lebensbildes wiedererstehen. Aufgrund körperlicher Schwäche mußte N. sich zunehmend ärztlicher Behandlung unterziehen und starb im Alter von 56 Jahren bei einem Kuraufenthalt in der Schweiz. N.’ literarisches und journalistisches Schaffen zeugt weniger von originalem Denken und schöpferisch vorantreibender Kraft als von einer passiv die Zeit begleitenden Haltung, die im zeitlichen Nacheinander ein breites Spektrum neu auftauchender Kräfte in sich aufzunehmen vermochte und sie reproduzierend an ein breites Publikum weitergab. Als eindrückliches Beispiel seiner Zeit und ihrer Strömungen bleibt N.’ Werk damit von dauerhaftem Interesse. Die im Neinstedter “Lindenhof” ausgebildeten “Berufsarbeiter für Innere Mission” wurden nach ganz Deutschland ausgesandt und damit zu Trägern christlicher Sozialarbeit, die charakteristisch für die Kirche des 20. Jahrhunderts wurde. Der “Lindenhof” wurde im Laufe der Jahre mit dem von N.’ Schwester Johanne N. gegründeten “Elisabethstift” unter den Namen “Neinstedter Anstalten” vereinigt. Ihre Schwerpunkte liegen heute in der Förderung geistig behinderter Menschen sowie der Ausbildung von Heilerziehungspflegern und Diakonen.

Werke: s.o.; Ulrich von Hutten. Volksthümliche Betrachtungen des gegenwärtigen kirchlichen Streites in Deutschland, 1839; Fünfzig Gedichte, 1839; Noch funfzig Gedichte, 1841; (Hg.) Marie v. N., Gesammelte Schriften (15 Bde), 1858–1867; Lebensbild der heimgegangenen Marie N. (3 Bde), 1867–1869; (Hg.) Wilhelm von Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes, 1870, 161894.

Nachlaß: Freies Deutsches Hochstift Frankfurt/Main.

Literatur: ADB 23, 283–285; Mitteldt Leb 1, 221–234 (B); Eleonore Fürstin Reuß, P. N.’ Jugendjahre, 1896; dies., P. v. N., Das Leben und Wirken des Volksblattschreibers, 1900; Martin v. N., Fünfzig Jahre Innere Mission, 1900; Otto Steinwachs, Marie N. und der Lindenhof in Neinstedt a. H., 1912, 19ff.; Hans Andres, P. v. N., Seine Persönlichkeit und die Entwicklung seiner politischen Gedanken bis zum Ausgang der deutschen Revolution, Diss. Düsseldorf 1934; Karl-Georg Faber, Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands von 1866 bis 1871, Bd. 1, 1963; Detlef Gärtner, “Es dichtete für mich genug der ganze Park”, Haldensleben-Hundisburg 1997. 

Archivalien: Akten der Neinsteder Anstalten; Jahresberichte des Lindenhofes, 1851ff.

Bildquelle: *Neinstedter Anstalten, Neinstedt: Ölgemälde (Marie N. und P. v. N.).

Ursula Schmiedgen

geändert: 09.06.2004