Nathusius,
Johanne Philippine |
J., jüngstes Kind des Unternehmers Johann Gottlob N. und seiner Frau Luise, geb. Engelhard, wuchs im engen Familienkreis auf. Unterrichtet wurde sie von den Hauslehrern ihrer sechs Brüder und besuchte später auf mehreren Reisen, von denen sie phantasievolle, kritische, witzige Briefe schrieb, vereinzelt Vorlesungen. Von ihrer Mutter wurde sie zu einer dem reformierten Bekenntnis verbundenen nüchternen und toleranten Religiosität geführt. Mit etwa 14 Jahren rief sie eine Strickschule für Mädchen ins Leben, die sie 40 Jahre leitete. 1849 übernahm sie auch die Sorge für das noch junge Mädchenrettungshaus in Althaldensleben. Hier erkannte sie mit ihrer feinen Beobachtungsgabe die besondere Notlage eines geistig behinderten Mädchens. Durch zwei ihrer Brüder, beide Abgeordnete im Provinziallandtag, veranlaßte sie 1858 eine Zählung “der Cretinen und Blödsinnigen” und machte damit als eine der ersten in Preußen öffentlich auf deren soziale Vernachlässigung aufmerksam. Versuche, die Regierung zur Gründung einer Anstalt zu bewegen, scheiterten. Unterstützung für private Einrichtungen war jedoch zu erwarten. So gründete N. 1861 aus eigenen Mitteln das Elisabethstift und gewann die Witwe des nach einer schweren Krankheit geistig behindert verstorbenenen Königs Friedrich Wilhelm IV. zur Namenspatronin und Protektorin. Während ihre Brüder August v. N., ihr engster Mitarbeiter, und Philipp v. N., bereits Vorsteher vom Lindenhof, die offiziellen Ämter als Vorstände wahrnahmen, prägte N. durch ihre Persönlichkeit das Leben in den Häusern im Sinn einer nicht verwahrenden, sondern fördernden Pädagogik. Auch betreute sie die Wirtschaft und führte die Kassenbücher. Nach dem Tod ihres Bruders Philipp wurde sie 1873 selbst zum Vorstandsmitglied ernannt. Bis zu ihrem Tod 1885 war sie es, die ebenso diplomatisch geschickt wie konsequent das Stift faktisch leitete. Gefördert von ihrer Schwester Luise hatte sie sich auch der Malerei zugewandt. Im Vordergrund stand jedoch für sie nicht die Kunst. Vielmehr waren ihre Bilder gemalte Gebete. Im Mittelpunkt standen Blumen und Bäume, die sie als Gleichnisse göttlicher Geheimnisse verstand und malte. 1859 schmückte sie die Kirche in Althaldensleben (Öl auf Holztafeln, zum Teil dort erhalten), 1881 gestaltete sie die Altarwand einer Kapelle des Elisabethstifts (Öl auf Holz, nicht erhalten). In den 1860er Jahren schuf sie eine Bilderfolge von 28 Tafeln (Öl auf Holz, drei erhalten), die 1869 stark vereinfacht als Lithographieband unter dem Titel “Die Blumenwelt nach ihrer Namen Sinn und Deutung” erschienen (erhalten). In den 1870er Jahren folgten 200 Blätter, auf denen sie mit Tusche, Öl und Aquarellfarben alle in der Bibel genannten Pflanzen zu einem “Garten der Heiligen Schrift” ordnete und kommentierte (nicht erhalten). Beiden Bilderfolgen ging systematisches Bibel-, Literatur-, Sprach- und Naturstudium voraus. Weitere Arbeiten schenkte sie dem Elisabethstift (ein Ölbild erhalten). Sie trugen dazu bei, seiner Pädagogik den fördernden Charakter zu geben, durch den das schnell wachsende Stift, besonders seine Schulpädagogik, bis zur Weimarer Zeit zum Vorbild für andere Einrichtungen wurde. Während des Nationalsozialismus fielen nahezu alle seine Bewohner den sogenannten Euthanasiemaßnahmen zum Opfer. Nach dem Wiederaufbau zur Zeit der DDR ist es heute wieder, vereinigt mit dem von Philipp v. N. gegründeten Lindenhof, unter dem Namen “Neinstedter Anstalten” die größte evangelische Einrichtung für geistig behinderte Menschen in Sachsen-Anhalt.
Literatur: Wilhelm v. N., J. P. N. Aus ihrem Leben mitgeteilt. o. J. [ca. 1886]; Elsbeth v. N., Erinnerungen an Johanne, o. J. [1907]; Lilly v. N., J. G. N. und seine Nachkommen, Ms. Detmold 1964; Eva Hoffmann-Aleith, Johanne (Roman), 1980; Familienarchiv v. N./N., Bensheim.
Archivalien: Akten der Neinstedter Anstalten: VWRE 1861ff.; Akten der Neinsteder Anstalt JbE 1861ff.
Bildquellen: Neinstedter Anstalten: Ölgemälde; *Museum Haldensleben.
Ursula Schmiedgen
geändert: 09.06.2004