Nathusius, Hermann
Engelhard von (seit 1840) |
Der älteste Sohn des Johann Gottlob N. wuchs auf dem väterlichen Gütern Althaldensleben und Hundisburg auf, wurde zunächst durch Privatlehrer erzogen und besuchte anschließend das Gymnasium des Klosters Unser Lieben Frauen in Magdeburg, das Realgymnasium in Braunschweig sowie ab 1826 das Collegium Carolinum Braunschweig. 1827–30 studierte N. an der Universität Berlin Naturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Zoologie und publizierte in dieser Zeit bereits erste botanische und zoologische Forschungsergebnisse. Er erlernte anschließend die kaufmännische Buch- und Geschäftsführung im Magdeburger Handels- und Fabrikgeschäft seines Vaters und übernahm 1831 das Gut Hundisburg. Hier widmete er sich zunächst weiteren naturwissenschaftlichen Untersuchungen (anatomische, morphologische und physiologischen Studien), die Grundlage für seine späteren Forschungen zur Tierzucht und Rassenkunde wurden, und pflegte intensiven Kontakt mit Hallenser Wissenschaftlern. Nach dem Tod seines Vaters 1835 übernahm N. die Verwaltung der Fabrikbetriebe und Gutswirtschaften, löste die in Althaldensleben installierte Porzellan- und Steingutfabrik auf und errichtete dort mit seinem Bruder Philipp v. N. eine Rübenzuckerfabrik nach neuerem System. Er reorganisierte und vergrößerte das Gut Hundisburg und wandte sich fast gänzlich der Landwirtschaft zu, der er durch Einführung neuer englischer Verfahren (Drillsaat bei Rübenkulturen, Entwässerung des Ackerbodens durch Tonröhrensysteme) sowie ertragreicher englischer Weizensorten eine innovative Ausrichtung gab. N. beschritt auch in der Tierzucht neue Wege. Er führte gezüchtete Shorthorn-Rinder und Schweine aus England ein, um einheimische Viehstämme hinsichtlich der Fleischproduktion zu veredeln, und züchtete zu diesem Zweck englische Southdown- und Leicesterschafe in Stammesreinheit fort oder kreuzte sie mit Merinos. N. widmete sich zudem erfolgreich der Vollblut-, später auch der Warm- und Kaltblut-Pferdezucht für wirtschaftliche Zwecke und importierte englische Zuchtpferde. Als Mitbegründer des Deutschen Jockey-Clubs gab er Anregung zur Gründung von Pferdezuchtvereinen, richtete einen Rennstall ein und weckte damit das regionale Interesse für Pferdezucht und Rennsport. Grundlage dieses Erfolgs war die intensive Auseinandersetzung mit tierzüchterischen Fragen, bei der N. allein auf der Basis methodischer Überlegungen und exakter Beobachtungen bis heute gültige Züchtungsgrundsätze entwickelte, die prinzipiell von der sogenannten Konstanztheorie der gängigen Mentzel-Weckherlinschen Schule (Vorrang der reinen Rasse und ihrer Konstanz bei der Zuchtwahl) abwichen und u. a. die Bedeutung des Einzeltieres und seiner Leistungsfähigkeit betonten. N. trug im Verlauf seiner wissenschaftlichen Forschungen nicht nur eine bedeutende Sammlung zoologisch wertvollen Materials zusammen (Wollproben, Serien von Tierfotografien, große Schädelsammlung), sondern profilierte sich in einem sachlich geführten Meinungsstreit mit Charles Darwin als bedeutender Gegner seiner Deszendenztheorie, der N. aus religösen Gründen nicht folgen konnte. Bereits seit Ende der 1830er Jahre stark im landwirtschaftlichen Vereinswesen engagiert, avancierte N. 1856 zum Mitglied der Centraldirektion der landwirtschaftlichen Vereine der Provinz Sachsen und bekleidete 1863–69 das Amt des Direktor des Landwirtschaftlichen Centralvereins der Provinz Sachsen. Er hatte bedeutenden Anteil an der Gründung des höheren landwirtschaftlichen Lehrinstituts an der Universität Halle (1864) sowie an der Verlegung der landwirtschaftlichen Versuchsstation von Großkmehlen nach Halle, wirkte bei der Begründung der Deutschen Ackerbaugesellschaft mit und initiierte bedeutende Ausstellungen dieser Gesellschaft 1863 in Hamburg und 1865 in Dresden. 1862 wurde N. zum Mitglied und 1869 zum Präsidenten des von ihm in der Folge reorganisierten Königlicher-preußischen Landesökonomie- Collegiums ernannt. Gleichzeitig erhielt er eine Berufung als Vortragender Rat in das Ministerium für Landwirtschaft, wo er das Dezernat für landwirtschaftliches Unterrichtswesen leitete. 1870 auch zum Mitglied des Norddeutschen Bundesrates gewählt und mit der Leitung des landwirtschaftlichen Lehrinstituts in Berlin betraut, verlegte er seinen Wohnsitz dauerhaft nach Berlin. Bereits 1840 bei der Huldigung Friedrich Wilhelms IV. in den Adelstand erhoben, stand N. in engem Kontakt mit dem alteingesessenen Landadel der Region, u. a. mit Eduard von Alvensleben und Albrecht von Alvensleben, August von Gneisenau und der Familie des Neuhaldensleber Landrats Otto August von Veltheim. Als Vertreter der Ritterschaft wurde N. zum Mitglied der sächsischen Provinzialstände gewählt, gehörte dem vereinigten Landtag an und verfocht strikt konservativ-royalistische Positionen.
Werke: Ansichten und Erfahrungen über die Zucht von Schafen zum Zweck der Fleischproduction (Fleisch-Schafen), 1856; Ueber Shorthorn-Rindvieh. Mit einem Anhang über Inzucht, 1857; Ueber die Racen des Schweines, 1860; Ueber Constanz in der Thierzucht, 1860; Vorträge über Viehzucht und Rassenkenntniß (2 Bde), 1872–1880; Abh. über die Schädelform des Rindes, 1875; Ueber die sogenannten Leporiden, 1876; Wilhelm v. N. (Hg.), Kleine Schriften und Fragmente über Viehzucht, 1880 (B).
Literatur: NDB 18, 749f.; ADB 23, 277–283; N. N., H. v. N. † in seiner Bedeutung als Naturforscher und Landwirth, in: Magdeburgische Zeitung Nr. 373, 1879; Wilhelm v. N., Rückerinnerungen aus dem Leben des Bruders H. v. N., in: ders. (Hg.), Vorträge über Viehzucht und Rassenkenntnis, 1880; N. N., H. v. N., in: Journal für Landwirtschaft 28, 1880, 1–8 (*B); Gustav Comberg, Die deutsche Tierzucht im 19. und 20. Jahrhundert, 1984.
Bildquelle: Familienarchiv v. N., Hundisburg (privat).
Guido Heinrich