Niemeyer, Johann Paul Otto, Dr. med.
geb. 09.03.1832 Magdeburg,
gest. 24.02.1890 Berlin,
Arzt, Heilkundler, Publizist.

N. entstammte der zweiten Ehe des angesehenen Magdeburger Kreisphysikus’ Carl Eduard N. mit Julie Göschen, der Tochter eines Göttinger Universitätsprofessors. Nur die ersten fünf Jahre seines Lebens wuchs er gemeinsam mit seinem Halbbruder Felix N. und seiner Halbschwester Marianne N. in Magdeburg auf. Nach dem frühen Tod des Vaters (1837) siedelte N. mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder Hans N. nach Erlangen über, wo er unter dem Rektorat des renommierten Philologen Ludwig Döderlein das Gymnasium absolvierte und bereits 1849 das Abitur ablegte. Dem Vorbild seines Vaters folgend, studierte N. 1849-51 Medizin in Halle und wurde hier vor allem durch den Physiologen Alfred Wilhelm Volkmann und den Chemiker Richard Felix Marchand beeinflußt, die sein Interesse an der Heilkunde und Heilkunst weckten. Anschließend setzte er sein Studium in Erlangen fort. Nach seiner 1854 erfolgten Promotion in Berlin wechselte N. als Assistent seines Bruders Felix an das Altstädtische Krankenhaus in Magdeburg, wo er in die umfangreiche ärztliche Praxis eingeführt wurde. 1856 legte N. das Staatsexamen ab und ließ sich anschließend als Krankenhaus-, Armen-, Gewerks- und Eisenbahnarzt zunächst in Neustadt bei Magdeburg nieder. Seit 1859 praktizierte er in der Magdeburger Altstadt und beschäftigte sich u.a. mit der physikalischen Diagnostik und innovativen Anwendungen der Elektrotherapie. Die Erfahrungen seiner langjährigen ärztlichen Tätigkeit in Magdeburg flossen in sein umfangreiches Hauptwerk „Handbuch der theoretischen und clinischen Percussion und Auscultation vom historischen und clinischen Standpuncte“ (4 Bde, 1868-1871) ein, das seinen fachlichen Ruf begründete. Daneben wirkte N. frühzeitig auch in volksaufklärerischem Sinne. Er nutzte die aufkommende Bewegung der bürgerlichen Bildungsvereine und hielt seit 1856 zahlreiche medizinische Kurse und gesundheitsprophylaktische Vorträge inner- und außerhalb Magdeburgs, in denen er seine Ideen zur Verbesserung der hygienischen Lebensweise entwickelte und diese auch langjährig in den Magdeburger Blättern für Handel, Gewerbe und sociales Leben propagierte. Durch den nachhaltigen Erfolg beflügelt, verlagerte sich seine Tätigkeit zunehmend in den Bereich der konsultativen Praxis, die ihn weit über Magdeburg hinausführte. 1875 folgte N. einem Ruf an die Leipziger Universität, um dort als Privatdozent seine volksaufklärerische Tätigkeit in erweitertem Umfang fortzusetzen und vor allem publizistisch zu wirken. Er habilitierte sich 1876 an der Leipziger Universität, wechselte 1878 – eine akademische Karriere ausschlagend – als Leiter des Vereins für volksverständliche Gesundheitspflege nach Berlin und rief 1881 den Berliner Hygieinischen Verein ins Leben, dessen Arbeit er sich bis zu seinem Lebensende widmete. Offensiv und gegen mannigfaltige Anfeindungen aus den Reihen der etablierten Schulmedizin vertrat N. seine Forderungen nach einer vernünftigen und naturgemäßen Gesundheitspflege und Heilkunde, die er in der Folgezeit einer wissenschaftlich-kritischen Klärung und Ausgestaltung unterzog. Obgleich er dabei auch einseitig verfuhr – etwa in der rigorosen Ablehnung der schulmedizinischen Verschreibungspraxis und der Anwendung von Medikamenten – erzielte der schriftstellerisch und rhetorisch begabte N. durch seine zahlreichen populär-medizinischen und volksaufklärerischen Schriften und gemeinverständlichen Vorträge außerordentliche Wirksamkeit in allen Bevölkerungskreisen. Mit der Herausgabe der Zss. Aerztlichen Sprechstunden (1878-88) und Hygieia (ab 1888) schuf N. eine unabhängige publizistische Plattform für die nachhaltigen Verbreitung seiner Anschauungen zur naturgemäßen Gesundheits- und Krankenpflege. Durch seine Anwendung alternativer Heilverfahren (Wasserheilkunde, Heilgymnastik etc.) in Verbindung mit einer umfassenden Idee hygienischer Lebensführung (Diätetik, Frischluftkuren, Körperhygiene) gilt N. als Wegbereiter der arzneilosen Heilkunde (Naturheilverfahren) und als Mitbegründer der hygienischen Heilkunde als neuer medizinischer Richtung.

Werke: De mandibulae ancylosi novaque eius curatione operativa, Diss. Berlin 1854; Pathologisches und Physiologisches im Gebiet der Elektrotherapie, 1858; Ueber die elektrische Behandlung (Faradisation) und die ihr zugehörigen Krankheitszustände, 1859; Trichinen-Catechismus in Fragen und Antworten, 1865, 31867; Entwurf einer einheitlichen Theorie der Herz-, Gefäß- und Lungengeräusche, 1869; Grundriss der Percussion und Auscultation, nebst einem Index sämmtlicher in- und ausländischer Kunstausdrücke, 1871, 21873; Atmiatrie. Athmungs- und Luftheilkunde, eine practische Studie (Medicinische Abhandlungen, Bd. 1), 1871; Grundzüge einer Radicalcur der einfachen Lungenschwindsucht (Medicinische Abhandlungen, Bd. 2), 1872; Die Lunge. Ihre Pflege und Behandlung im gesunden und kranken Zustande, 1872, 61887; Die Erkältungskrankheiten, ihre Ursache, Behandlung und Verhütung, 1872, 21878; (Hg.) Boden-Ventilation als Schutzmaßregel wider Cholera und Typhus. Mit Betrachtungen über die Magdeburger Epidemien als Einleitung sowie mit einigen Zusätzen, 1873 (mit C.L. Staebe); Herz, Blut- und Lymphgefässe. Ihre Pflege und Behandlung im Gesunden und kranken Zustande, einschließlich Hämorrhoiden, Skrofeln, Fieber, Hitzschlag, Erfrierungen, Blutungen u.s.w., 1874, 21890; Die Hämorrhoiden. Ihre Ursachen, Behandlung und Verhütung, 1874, 21884; Physicalische Diagnostik einschließlich der klimatischen und hygieinischen Untersuchung für praktische Aerzte, 1874; Grundzüge einer klinischen Hygiene und Diätetik, nebst einem Resumé über Schwindsucht (Medicinische Abhandlungen, Bd. 3), 1875; Die Lungenschwindsucht – eine „Geißel der civilisirten Gesellschaft“, 1876; Gesundheitslehre des menschlichen Körpers, 1876; Die Sonntagsruhe vom Standpunkte der Gesundheitslehre gemeinverständlich abgehandelt, 1876, 21883; Gesundheitslehre des menschlichen Körpers, 1876; Aerztlicher Ratgeber für Mütter. Zwanzig Briefe über die Pflege des Kindes von der Geburt bis zur Reife, 1877, 21885; Ueber die akustischen Zeichen der Pneumonie (Habilitations-Vorlesung), 1877; Die Skrophelkrankheit, 1879; Die Sonntagsruhe vom hygienischen Standpunkte, 1880; Ueber gesundes und ungesundes Aussehen, 1880; Ueber die klimatische Behandlung Brustkranker mit besonderer Berücksichtigung des Curortes Meran, 1881; Aerztlicher Ratgeber für gesunde und kranke Frauen vom hygieinischen Standpunkte, 1890. – zahlreiche Artikel u.a. in Schmidt’s Jahrbüchern, Deutsche Klinik, Wiener medicinische Presse, Die Gartenlaube, Unsere Zeit, Nordwest, Blätter für Diaconie und Innere Mission, Berliner Sonntagsblatt

Literatur: ADB 52, 629; August Andreae, Chronik der Aerzte des Regierungs-Bezirks Magdeburg, mit Anschluss der Halberstädter, Quedlinburger und Wernigeröder Landestheile, Bd. 1, 1860, 165; Fs. zum 25jährigen Doctor-Jubiläum des Herrn Sanitätsrath Dr. P. N., gefeiert zu Berlin am 21. März 1879, [1879] (W); Carl Rosenthal, P. N. als ärztlicher Volksschriftsteller und Volksredner, in: Fs. zum 25jährigen Doctor-Jubiläum des Sanitätsrath Dr. P. N., 1879, 19-26; Adolf Hinrichsen, das literarische Deutschland, 1888, 433f.; Hans N., Zum Andenken an P. N., in: Hygieia. Gemeinverständliche Monatsschrift für Volksgesundheitslehre und persönliche Gesundheitspflege 3, 1890, 98-110; Hermann Correus, Zur Gedächtnissfeier für unsern allverehrten Herrn Sanitätsrath Dr. med. P. N., in: ebd. 3, 1890, 110-115; Julius Pagel, Biographisches Lexikon hervorragender Aerzte des 19. Jahrhunderts, 1901, 1209; Kurt N. (Bearb.), Stammtafeln des N.schen Geschlechts, 41915, 47; August Hirsch (Hg.), Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker, Bd. 4, 21932, 372; Richard Westphal, P. N. und seine Verdienste um die Medizin, 1940; Dietrich von Engelhardt (Hg.), Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Band 1, 2002, 439.

Bildquelle: Porträt-Büste von Walter Schott (Berlin).

Guido Heinrich

letzte Änderung: 22.09.2005