Gruson, Hermann
August Jacques |
G. wurde als ältester Sohn des Premierleutnants im Ingenieurcorps Louis Abraham G. im Wohnhaus der Familie in der Magdeburger Zitadelle geboren, die zu dieser Zeit auch als Staatsgefängnis diente. Trotz der düsteren Umgebung verlebte G. eine weitgehend unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit. Nach der Vorbereitung durch einen Hauslehrer wurde G. Schüler des Domgymnasiums. Da ihn aber die “Realien” mehr als die alten Sprachen Griechisch und Hebräisch interessierten, wechselte er zur Gewerbe- und Handelsschule, dem späteren Realgymnasium, wo er 1839 das Reifezeugnis erhielt. Nach dem einjährigen Militärdienst bei einer Pioniereinheit begab sich G. nach Berlin, um an der Universität vor allem mathematische und naturwissenschaftliche Vorlesungen, u. a. auch bei seinem Großonkel Johann Philipp G., zu besuchen. Außerdem – und das war für seinen weiteren Lebensweg wesentlich bedeutsamer – trat er als Volontär in die Maschinenfabrik von August Borsig ein. G. lernte die Praxis des Maschinenbaus von Grund auf kennen. Er arbeitete fünf Jahre in allen Werkstätten des Borsigschen Unternehmens. Neben dem eigentlichen Maschinenbau befaßte er sich auch mit Fragen des Gießereiwesens, besonders des Eisengusses. Mit dem “Lokomotivkönig” verband ihn ein persönliches Verhältnis, das auf die zwischen diesem und seinem Vater Louis Abraham G. bestehenden freundschaftlichen Beziehungen zurückging. G. verkehrte in der Villa von Borsig und empfing dort manche Anregung; so wurde sein Interesse an der tropischen und subtropischen Pflanzenwelt durch die botanischen Sammlungen geweckt, die in dem zum Wohngrundstück gehörenden großzügig angelegten Gewächshaus zu bewundern waren. Am Ende seiner Tätigkeit in der Maschinenfabrik stellte ihm Borsig ein glänzendes Zeugnis aus, in dem er G. sehr gute theoretische Kenntnisse und praktisches Können bescheinigte und als eine besondere Leistung die eigen- verantwortliche Montage einer Lokomotive anführte. Von 1843 bis 1851 arbeitete G. als Maschinenmeister bei der Berlin-Hamburger Eisenbahn. Die Stellung hatte er der Vermittlung von Borsig zu verdanken, der darauf achtete, daß seine ehemaligen Mitarbeiter solche Positionen bei den Eisenbahngesellschaft einnahmen, in denen sie über alle technischen Investitionen, z. B. über die Anschaffung neuer Lokomotiven, zu entscheiden hatten. Am 01.02.1851 trat G. als Oberingenieur in die Maschinenfabrik von Friedrich Wöhlert in Berlin ein. Seine Nachfolge als Maschinenmeister bei der Berlin-Hamburger Eisenbahn übernahm wenig später sein vier Jahre jüngerer Bruder Gustav Louis G., dessen beruflicher Werdegang ähnlich dem seinen verlaufen war und der ebenfalls zuletzt als Volontär in der Maschinenfabrik von Borsig den praktischen Maschinenbau kennengelernt hatte. Drei Jahre später verließ G. Berlin und kehrte nach Magdeburg zurück. Zu diesem Schritt veranlaßten ihn vor allem familiäre Gründe. Sein Vater lebte nach dem Tod der Mutter allein und hatte nach dem Verlust seiner Position bei der staatlichen Eisenbahn auch keine neue berufliche Aufgabe übertragen bekommen. Es ist sicher, daß G. in Berlin persönliche Beziehungen mit Schülern und Absolventen des Königlichen Gewerbeinstituts verbanden, denn als 1856 der an dieser Bildungseinrichtung bestehende Verein Hütte in dem kleinen Harzort Alexisbad den VDI gründete, gehörte G. zu denjenigen, die der Gründungsversammlung schriftlich ihren Beitritt mitteilten. In die Berliner Zeit fiel auch ein Ereignis, das die menschlichen Qualitäten von G. bezeugt. Die Berliner Polizeibehörde bescheinigte am 23.09.1848, daß G. im November des vorangegangenen Jahres unter Einsatz seines Lebens einen Jungen vor dem Tod durch Ertrinken rettete. Dafür erhielt er die Lebensrettungsmedaille, seine erste offizielle Auszeichnung, auf die er mit Recht Zeit seines Lebens besonders stolz war. In Magdeburg übernahm G. 1854 die Stellung des technischen Direktor der Maschinenfabrik der Vereinigten Hamburg-Magdeburger Dampfschiffahrtsgesellschaft. Bereits ein Jahr später, am 01.06.1855, eröffnete er eine eigene Maschinenfabrik und Gießerei mit Schiffswerft. An der Einmündung der Sülze in unmittelbarer Nachbarschaft zur Maschinenfabrik Buckau errichtete er die ersten Werkstätten und einen Schiffsbauplatz. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre setzte eine allgemeine wirtschaftliche Rezession ein. Viele Unternehmen gingen in Konkurs, lediglich Aufträge für die Gießerei bewahrten seine Firma vor diesem Schicksal. Er hatte sich seit längerem mit dem Hartguß befaßt, einem Gußeisen von außergewöhnlicher Härte und Verschleißbeständigkeit. G. gelang es durch Gattieren, das heißt Mischen verschiedener Roheisensorten, einen besonders festen Hartguß zu erzeugen und seinem, wie er es ausdrückte, “eigentümlichen Eisen mit der Härte des Gußstahls und der zehnfachen Festigkeit des Gußeisens” neue Anwendungsgebiete zu erschließen. Er stellte neben einigen Eisengießereien in England und den USA als einer der ersten Herz- und Kreuzungsstücke für Schienenanlagen aus verschleißfestem Hartguß her, deren Einsatz bei der Magdeburg-Halberstädter Eisenbahn die Erwartungen übertraf. Bald häuften sich in seiner Firma die Bestellungen der Eisenbahnges. G. suchte nach weiteren Anwendungen und machte es “zu seiner Lebensaufgabe, alle Produkte, die von Hartguß gefertigt werden können, anzufertigen”. Anfang der sechziger Jahre begann G., Panzergeschosse aus Hartguß herzustellen. In von den preußischen Militärbehörden veranstalteten Schießversuchen erwiesen sich die Hartgußgeschosse den üblichen Stahlgeschossen überlegen. G. erschloß dem Hartguß aber noch weitere militärtechnische Anwendungen. 1869 führte er auf dem Schießplatz Berlin-Tegel seinen ersten Hartguß-Panzerstand dem preußischen Kriegsminister und hohen Militärs vor. Der Artilleriebeschuß bestätigte die Eignung des Hartgusses auch für diesen Zweck. Die Fabrikräume an der Sülze reichten bald nicht mehr aus, und G. ließ von 1869 bis 1871 neue moderne Werkstätten an der Marienstraße in Buckau errichten. Hier wurden u. a. die mächtigen Hartgußpanzertürme und -geschützstände für die Küstenbefestigung des italienischen Kriegshafens Spezia hergestellt. An den technischen Erfolgen hatte sein Mitarbeiter Max Schumann, Ingenieuroffizier und Experte für gepanzerte Befestigungen, einen bedeutenden Anteil. Zwangsläufig ergab sich durch die Übernahme der Schumannschen Lafettenkonstruktionen die Notwendigkeit, eigene Geschütze zu entwickeln und zu bauen. Bald gehörten Schnellfeuerkanonen und -haubitzen sowie Mörser zum Lieferprogramm des Grusonwerkes. Die gute Auftragslage erforderte eine weitere Vergrößerung der Produktionsanlagen. Um über die notwendigen finanziellen Mittel zu verfügen, wurde 1886 das Grusonwerk in eine AG umgewandelt, in der G. als erstes Vorstandsmitglied die Leitung behielt. Ein firmeneigener großer Schießplatz mit einer 10 km langen Schießbahn entstand in der Nähe von Tangerhütte. Dort fanden vom 22. bis 27. September 1890 vor Vertretern aller Militärstaaten der Welt, mit Ausnahme Frankreichs, Vorführungen aller militär- technischen Erzeugnisse des Grusonwerkes statt. Die Veranstaltung wurde für G. zu einem großen wirtschaftlichen Erfolg. Außer militärtechnischen Erzeugnissen lieferte G. nach wie vor Hartgußteile für den Eisenbahn- und Straßenbahnbetrieb. Zum festen Herstellungsprogramm gehörten fernerhin Walzenmühlen, Zerkleinerungsmaschinen komplette Erzaufbereitungsanlagen sowie Hebezeuge und Transporteinrichtungen. Der politisch konservativ eingestellte G. verhielt sich in sozialen Fragen gegenüber der Arbeiterschaft verständnisvoller als viele andere Unternehmer seiner Zeit. Ein Schlüsselerlebnis, das ihn in dieser Haltung nach seinen eigenen Bekundungen bestärkte, war der einzige Streik in seinem Unternehmen, der sich 1859 ereignete. G. nahm dieses Ereignis als ein Zeichen, in seinem Unternehmen eine von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängige sozial zuträgliche Lohnpolitik zu betreiben. Tatsächlich kam es unter seiner Leitung zu keinem weiteren Streik. Neben vielen persönlichen Zuwendungen und Darlehen unterstützte G. seine Mitarbeiter auch durch Stiftungen, die laut testamentarischer Verfügungen auch nach seinem Tod bestehen blieben. Am 01.07.1891 schied G. aus dem Vorstand des Unternehmens aus. Als Privatmann verfolgte er aufmerksam die weitere Entwicklung und erlebte zwei Jahre später auch die Übernahme des Grusonwerkes in den Krupp-Konzern. Zeitlebens interessierte sich G. für die Naturwissenschaften, besonders fesselte ihn das Gebiet der Astronomie. Tiefgründig befaßte er sich mit dem Zodiakallicht, einer pyramidenförmigen Aufhellung, die im Frühjahr am westlichen Himmel kurz nach Sonnenuntergang und im Herbst am Himmel im Osten kurz vor Sonnenaufgang manchmal zu sehen ist. Die Ergebnisse seiner langjährigen Beobachtungen dieses Phänomens veröffentlichte er 1893 unter dem Titel “Im Reiche des Lichts”. Dieser Publikation blieb, ebenso einer überarbeiteten Nachauflage, ein zufriedenstellender Erfolg versagt. Auf einem anderen naturwissenschaftlichen Gebiet, der Botanik, fand G. dagegen viel Anerkennung. Die fremdartige Schönheit tropischer Pflanzen hatte es ihm angetan. Er richtete für verschiedene Pflanzenspezies aus den tropischen und subtropischen Gegenden der Erde Gewächshäuser ein. Seine besondere Aufmerksamkeit galt den Kakteen. Seine Kakteensammlung war bald die größte und reichhaltigste in Europa. Bei den Fachleuten galt G. als exzellenter Kenner, dem die Kakteenzucht neue Erkenntnisse verdankte. Zwei Kakteen, der “Grusonia bradtiana” und der “Echinocactus grusonii”, wurden nach ihm benannt. G. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, Orden, Ehrentitel und Ehrenmitgliedschaften, seine Vaterstadt Magdeburg verlieh ihm die Ehrenbürgerschaft.
Literatur: Max Geitel, H. G. – der Begründer des Grusonwerkes, 1891; Georg G., Geschichte der Familie G., 1924; Conrad Matschoß, Männer der Technik, 1925, 97; Max Dreger, H. G. – ein Pionier deutschen Ingenieurkunst. Beiträge zur Geschichte der Technik und Industrie, Bd. 16, 1925, 67–93; Manfred Beckert, H. G. – Ein Magdeburger Ingenieur und Unternehmer, 1995.
Bildquelle: *StadtA Magdeburg.
Manfred Beckert
letzte Änderung 13.09.2004