Bornemann, Friedrich Wilhelm Bernhard, Prof., Lic. theol., Dr. theol. h.c.
geb. 02.03.1858 Lüneburg,
gest. 30.06.1946 Jugenheim/Kr. Darmstadt,
ev. Pfarrer, Reformtheologe, Gymnasial- und Hochschullehrer, Schriftsteller.

Nach der gymnasialen Ausbildung in Lüneburg studierte B., Sohn eines dortigen Stadtsenators, 1876 bis 1879 evangelische Theologie in Göttingen und Leipzig. Er absolvierte das erste theologische Examen in Hannover und war ab Herbst 1879 als Hauslehrer zunächst in Bremen und später in Medingen in der Lüneburger Heide tätig. Im Oktober 1880 wurde er zum Mitglied des Predigerseminars des Klosters Lokkum berufen und erhielt Anfang 1882 eine Anstellung als Stiftsinspektor der Theologischen Fakultät der Universität in Göttingen. Im Herbst 1884 legte er in Göttingen das Lizentiatenexamen ab und habilitierte sich als Privatdozent für Kirchengeschichte an der Göttinger Universität. Im Oktober 1886 wurde B. als Geistlicher Inspektor des Pädagogiums des Klosters Unser Lieben Frauen nach Magdeburg berufen. Hier amtierte er zugleich als Vorsteher und Studienleiter des klösterlichen Kandidatenkonvikts zur Ausbildung von Religionslehrern an höheren Schulen, als Religionslehrer am Pädagogium des Klosters, als Mitvorsteher des Klosteralumnats und ab 1891 auch als Prediger an der zuvor umfassend restaurierten und neueröffneten Klosterkirche St. Marien. 1897 heiratete B. Lucie Hertel, die Tochter des Magdeburger Lehrers und Stadthistorikers Gustav Hertel. Nach zwölfjähriger Dienstzeit in Magdeburg wechselte B. im April 1898 zunächst als ordentlicher Professor für Kirchengeschichte und praktische Theologie an die Universität Basel. 1902 übernahm er das besser dotierte Pfarramt an der St. Nikolai-Gemeinde in Frankfurt am Main, das er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1931 ausübte. In seiner Frankfurter Zeit hatte B. auch zahlreiche weitere kirchliche Ämter und Funktionen inne – u.a. 1906 als Senior des evangelisch-lutherischen Predigerministeriums, als Mitglied der Frankfurter Stadtsynode, ab 1920 als Präses der Bezirkssynode und Mitarbeiter in den vorbereitenden Ausschüssen der verfassunggebenden Kirchenversammlung, 1922 als Professor für Praktische Theologie an der Universität Frankfurt/Main und 1924-30 als Präses der der neuen Landeskirchenversammlung. Zudem vertrat B. bis 1930 die Frankfurter Kirche auf allen deutschen evangelischen Kirchentagen. – Während seiner Studienzeit nahmen insbesondere die historisch-kritische Methodik Albrecht Ritschls in Göttingen und Adolf Harnacks in Leipzig starken Einfluß auf das Theologieverständnis B.s, das sich an der rationalistisch-ethischen Grundhaltung Kants und Schleiermachers orientierte. In Leipzig lernte B. auch Martin Rade (1857-1940) und Friedrich Loofs kennen, die ihm dauerhaft freundschaftlich verbunden blieben. 1877 gehörte B. in Leipzig der studentischen Theologischen Mittwochsgesellschaft und einem studentischen Gustav-Adolph-Verein an, dessen Vorsitz er später übernahm. Zeit seines Lebens blieb B. den modernen Strömungen innerhalb der evangelischen Theologie verpflichtet und galt als gemäßigter Vertreter des sog. „Kulturprotestantismus“ (Albrecht Ritschl, Wilhelm Herrmann, Martin Rade). So erfolgte seine Berufung 1886 nach Magdeburg gegen den Widerstand des Kloster-Schulrektors Karl Urban und eines Teiles der konservativen Magdeburger Pfarrer- und Lehrerschaft. B. ließ seine modernen theologischen Auffassungen auch in seinen gymnasialen Religionsunterricht und in die Seminare des Kandidatenkonvikts einfließen und sorgte auf diese Weise während seiner Magdeburger Tätigkeit wiederholt für städtische Kontroversen. Neben seiner einflußreichen Tätigkeit am Magdeburger Kloster Unser Lieben Frauen – u.a. erhielt Paul Martin Jaeger (1869-1963), 1881 bis 1888 Alumnatsschüler des Klosters und späterer evangelischer Theologe und religiöser Volksschriftsteller, durch B. eine entscheidende Prägung – wirkte B. durch eine breite publizistische Tätigkeit und zahlreiche Vorträge auch weit über die Stadtgrenzen hinaus. Neben Martin Rade, Friedrich Loofs und Paul Drews gehörte B. zu den Mitbegründern und langjährigen eifrigen Mitarbeitern der 1886 initiierten Zs. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für die gebildeten Glieder der evangelischen Kirchen. Das kurz nach seiner Gründung in Christliche Welt umbenannt Periodikum entwickelte sich in kurzer Zeit zum führenden kritischen Organ des sog. Kulturprotestantismus und übte über Jahrzehnte einen erheblichen Einfluß auf Frömmigkeit, Kulturideale und das politisches Selbstverständnis von Gruppen des liberalen und reformbereiten protestantischen Bildungsbürgertums aus. Auch in Frankfurt/Main entfaltete B. eine rege kirchliche und theologische Tätigkeit. So wirkten auch hier die „Vorträge moderner Theologen“ über die Gemeindegrenzen hinweg, die B. ab 1907 gemeinsam mit Wilhelm Lueken (1875-1961), Erich Foerster (1865-1945), Wilhelm Veit (1872-1940) und Hermann Schuster (1874-1965) veranstaltete. In ihren Vorträgen entfalteten die Theologen ein an aktuellen Themen orientiertes Programm moderner Theologie, in dem es ihnen in liberaltheologischer Ausrichtung um eine Vermittlung von Religion und Kultur, von christlichem Glauben und moderner, säkularer Lebenswelt ging. In B.s Predigten verband sich der Ruf nach mehr Verständlichkeit, Menschennähe, Kommunikation und psychologisch differenzierter Predigtweise mit der nachhaltigen Forderung an seine Amtskollegen, sich in der theologischen Praxis auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen einzulassen. In diesem Sinne regte B. neben einer Predigt- wiederholt auch eine umfassende Parochialreform an, die der Rolle der Stadt als Brennpunkt sozialer Problemlagen besser gerecht werden sollte. Während der Zeit des Nationalsozialismus näherte B. sich noch in hohem Alter den Positionen der Bekennenden Kirche an und leistete Widerstand gegen die Säkularisierungs- und Nationalisierungsbestrebungen der Gemeinschaft Deutscher Christen. Für seine Verdienste um die theologische Wissenschaft verlieh ihm die Theologische Fakultät der Universität Kiel 1895 den Ehrendoktortitel.

Werke: In investiganda monachatus origine quibus de causis ratio habenda sit Originis, 1885; Die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums der Gegenwart. Ein Wort an Dozenten, Pfarrer und Studenten, 1885, 21886; Kirchenideale und Kirchenreformen. Ein Beitrag zur Beurteilung der Hammersteinschen Bewegung, 1887; (Üb.) Augustins Bekenntnisse in neuer Übersetzung und mit einer Einleitung (Bibliothek theologischer Klassiker, Bd. 12), 1888; Schulandachten, 1889; Unterricht im Christentum, 1891, 31893; Bittere Wahrheiten. Eine unerwartete Beleuchtung der „Ernsten Gedanken“ des Herrn Oberstleutnants von Egidy, 1891, 51891; Zu Freiheit und Frieden. Religiöse Reden, 1893; Der Streit um das Apostolikum. Vortrag, 1893, 31893; Zur katechetischen Behandlung des ersten Artikels im Lutherischen Katechismus, 1893; Der zweite Artikel im Lutherschen kleinen Katechismus. Fragen und Vorschläge (Hefte zur christlichen Welt 10), 1893; Religiöse Zweifel. Zwei Predigten, 1893; Max Hildebrandt weiland Pastor an St. Jacob. Gedenkblätter, 1894; Trauerrede bei der Bestattung der verwitweten Senatorin Frau Emilie B., geb. Abbelohde am 5. Oktober 1895 zu Magdeburg, 1895; Christenthum und ethische Cultur, 1897; Christliche Vollkommenheit nach katholischer und evangelischer Auffassung. Vortrag, 1897; Melanchthon als Schulmann. Rede am 16. Februar 1897 in der Aula des Pädagogiums zum Kloster Unser Lieben Frauen zu Magdeburg gehalten, 1897; Historische und praktische Theologie, 1898; Die Allegorie in Kunst, Wissenschaft und Kirche, 1899; Der Protestantismus und die Frauen. Ein Vortrag, 1900; Die Bibel und die Mission. Vortrag, 1901; Vier Tabellen zur Geschichte der Basler Mission, 1902; Bete und arbeite. Predigten, 1904; Der Konfirmandenunterricht und der Religionsunterricht in der Schule in ihrem gegenseitigen Verhältnis, 1907; Die katholischen Missionen und die Politik. Vortrag, 1907; Die Friedensfahrt deutscher Kirchenmänner nach England. Skizzen zum Andenken und Nachdenken, 1908; Jesus. Vier Vorträge gehalten in Frankfurt am Main, 1910; Konfuzius. Seine Persönlichkeit und seine Grundanschauungen nach den Lun Yü, 1912, 31922; Frankfurt am Main – eine Universität ohne theologische Fakultät?, 1913; Wie kommt es zu persönlicher Frömmigkeit?, 1914; Die Ursprünge der Christlichen Welt, in: Hermann Mulert (Hg.), Vierzig Jahre „Christliche Welt“. Festgabe für Martin Rade zum 70. Geburtstag, 4. April 1927, 1927, 4ff.; Heitere Bilder aus Leben und Zeit, [1932].

Literatur: BBKL 1, 704; Reichshdb 1 (B); Wer ist’ s 4 (1909); Wer ist’s 9 (1928); Wer ist’s 10 (1935); Adolf Hinrichsen, Das litterarische Deutschland, 21891; Heinrich Klenz (Hg.), Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1914, [1914]; Friedrich Niebergall, Die moderne Predigt, 1929; Johannes Rathje, Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte, 1952.

Guido Heinrich

letzte Änderung: 30.04.2007