Stieda, Wilhelm, Prof., Dr. rer. pol., Dr. phil.,
Dr. jur. h.c. |
In Riga geboren, besuchte er dort das Gymnasium und studierte in Dorpat, Berlin, Paris und Straßburg Nationalökonomie und Statistik. 1875 wurde er in Tübingen mit dem Thema „Das Sexualverhälnis der Geborenen“ zum Dr. rer. pol. und 1879 in Dorpat zum Dr. phil. promoviert.1876 habilitierte er sich in Straßburg mit dem Thema „Zur Entstehung des deutschen Zunftwesens“ für Nationalökonomie. Seit 1878 war S. außerordentlicher und seit 1879 ordentlicher Professor für Nationalökonomie und Statistik in Dorpat. Seinen statistischen Untersuchungen in Dorpat verdankte er 1881 die Anstellung als Regierungsrat am Kaiserlichen Statistischen Amt in Berlin. 1884 folgte S. einer Berufung als ordentlicher Professor für Nationalökonomie nach Rostock und 1898 als Nachfolger August von Miaskowskis für Nationalökonomie und Finanzwirtschaft nach Leipzig, wo er 1916/17 das Amt des Rektors versah und 1923 seine Emeritierung erfolgte. 1904 wurde S. zum Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt. An der aufstrebenden Universität in Straßburg fand S. in Gustav Schmoller einen Lehrer, der ihn in eine neue Richtung der Nationalökonomie (Jüngere Historischen Schule der Nationalökonomie) einführte, die zur rein historischen Ausrichtung der Gründers der Richtung, Wilhelm Roscher, die Sozialpolitik hinzufügte und sich im Verein für Sozialpolitik 1872 eine Plattform für wissenschaftliche Untersuchungen und sozialpolitische Propaganda geschaffen hatte. S. gehörte der Gruppe um Gustav Schmoller an und befaßte sich weniger mit der theoretischen Seite der Nationalökonomie, sondern ausgiebig mit Wirtschafts-, Gewerbe- und Zunftgeschichte sowie Statistik, die den wesentlichen Teil seiner Arbeiten sowohl in Straßburg als auch danach im Dorpat ausmachten. Sozialpolitisch war S. sowohl theoretisch durch Äußerungen zu aktuellen Tagesfragen als auch praktisch tätig. Unter S.s Mithilfe wurde 1900 in Leipzig der erste Arbeitsnachweis in einem dafür gegründeten Verein eingeführt, bis dieser verstaatlicht wurde. Sein Bestreben war es, die Arbeiterschaft organisch in den Nationalstaat einzugliedern. Deshalb pflegte er einen vorurteilsfreien Umgang mit den Vertretern der Arbeiterschaft. Nach dem Ende des ersten Weltkrieges bis zu seinem Tod befaßte sich S. verstärkt mit Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte. Auf der Basis eines umfangreichen Archivstudiums erschienen zahlreiche Einzelarbeiten und Aufsätze. In diesem Zusammenhang legte S. auch einige richtungsweisende Untersuchungen zur Wirtschafts- und Handelsgeschichte Magdeburgs und der Region vor. Gemeinsam mit dem langjährigen Syndikus der Magdeburger Handelskammer, Hans Leonhard, gab S. 1928 das dreibändige Werk „Magdeburger Wirtschaftleben in der Vergangenheit“ heraus, zu dem er umfangreiche Abhandlungen zum Magdeburger Buchhandel und zur Errichtung der Magdeburger Börse beisteuerte (vgl. Werke). In der Wirtschaftszeitung veröffentlichte er Artikel über „Die Kontinentalsperre in Magdeburg“, „Den Anfang der Magdeburger Zuckerindustrie“ und über „Magdeburgs Elbeschiffahrt“. Eine größere Arbeit S.s befaßte sich mit „Franz Karl Achard und der deutschen Zuckerindustrie“ (1928), und untersuchte den Beginn und die Entwicklung des Zuckerrübenanbaus und der industriellen Rübenzuckergewinnung im Raum Magdeburg.
Werke: Zur Entstehung des deutschen Zunftwesens, 1876; Das Verfahren bei Enqueten über soziale Verhältnisse (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 13), 1877; Die Eheschließungen in Elsaß-Lothringen 1872-1876, 1879; Revaler Zollbücher und Quittungen des 14. Jahrhunderts, 1887; Literatur, heutige Zustände und Entstehung der deutschen Hausindustrie (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 39), 1889; Das Leipziger Gewerbegericht, 1890; Grundriß zu Vorlesungen über Sozialpolitik, 1892; Hansisch-venezianische Handelsbeziehungen im 15. Jahrhundert, 1894; Der Befähigungsnachweis, 1895; Die Schragen der Ämter und Gilden in Riga, 1895 (mit C. Mettig), Die Lebensfähigkeit des deutschen Handwerks, 1897; Die Anfänge der Porzellanfabrikation auf dem Thüringer Walde, 1902; Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter, 1903; Die keramische Industrie in Bayern während des 18.Jahrhunderts, 1906; (Art.) Zunftwesen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 8, 31911, 1088-1111; Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft, 1906; Otto Pilet, in: GeschBll 62, 1927, 68-71; Die Entwicklung des Buchhandels in Magdeburg, in: Magdeburgs Wirtschaftsleben in der Vergangenheit, Bd. 3, 1928, 281-457.
Literatur: BDE 9, 525; Geheimrat S. zum 70. Geburtstag, in: Wirtschaftszeitung. Wochenschrift der Handelskammer Magdeburg, Halberstadt, Dessau, 6. Jg., Nr. 13 vom 01.04.1922; Walter Goetz, Nachruf auf W. S., in: Berichte über Verhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, 85. Bd., 1933, H. 3, 1-12.
Rainer Schmücking
letzte Änderung: 21.01.2005