Giese, Wilhelm Martin Ernst Leonhard
geb. 23.10.1883 Horn/Lippe,
gest. 08.04.1945 Wegeleben bei Halberstadt,
Maler, Zeichner, Radierer, Botaniker.

G. verlebte seine Kindheit im westfälischen Lippe. Sein Vater, der Jurist Ernst G., gab Anfang der 1890er Jahre seine Stellung am Lipper Amtsgericht auf, um als Kaufmann amerikanische Lebensversicherungen zu vertreiben. Die Familie wechselte mehrfach den Wohnort und zog zunächst nach Magdeburg, wo G. ab 1893 das Domgymnasium besuchte. Nach einem erneuten Umzug beendete er 1896-99 seine gymnasiale Ausbildung in Gera. Seinen künstlerischen Neigungen folgend begann G. 1899 eine Lehre als Dekorationsmaler in München und nahm dort zugleich Malunterricht. 1900 wurde er nach einem Probehalbjahr in die Weimarer Kunstschule aufgenommen, wo er bis 1903 u.a. bei Hans Olde, Max Thedy und Theodor Hagen studierte. Anschließend hielt sich G. längere Zeit zu Studienzwecken in Dresden auf und übernahm 1905 eine Stelle als Zeichenlehrer an der renommierten Kunstgewerbe- und Handwerkerschule in Magdeburg. Die akademisch orientierte Tätigkeit unter dem Direktor Emil Thormählen sagte dem aufstrebenden Künstler jedoch wenig zu, so daß er 1908 ein Zerwürfnis mit Thormählen zum Anlaß nahm, den Schuldienst zu verlassen und sich als freier Künstler in Magdeburg zu etablieren. Nach seinem Dienst als Einjährig-Freiwilliger betrieb er ab 1909 ein eigenes Atelier in der Olvenstedter Straße 52. Von 1908 bis zum Beginn des I. Weltkrieges hielt sich G. häufiger in Berlin auf. Er stand der Berliner Secession um Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Beckmann nahe, gehörte dem Deutschen Künstlerbund an und wechselte 1914 zur Berliner Freien Secession. Mit Max Beckmann verband ihn während dieser Zeit eine engere Freundschaft. Bei Ausbruch des I. Weltkrieges wurde G. zum Militärdienst einberufen, wenig später jedoch wieder entlassen. Nach zwischenzeitlichen Aufenthalten in Leipzig, Dresden, Gera und Berlin wohnte er ab 1920 wieder dauerhaft in Magdeburg. Um 1930 mußte G. seine Kunstwerkstatt in der Olvenstedter Straße aufgeben und konnte erst 1936 mit dem ehemalige Atelier von Adolf Rettelbusch im Hohenstaufenring 5 wieder geeignete Räumlichkeiten übernehmen. – Bereits in seinen frühen Berliner Jahren profilierte G. sich mit naturalistisch gehaltenen Radierungen und Zeichnungen. Besonders seine Großstadt- und Genreszenen erfreuten sich im Kreis der Berliner Secession großer Beliebtheit. Mit Max Liebermann tauschte er vor 1914 regelmäßig neugeschaffene Blätter aus und legte dort auch den Grundstein für eine eigene umfangreiche Graphiksammlung, in der u.a. auch die von ihm geschätzten Alfred Kubin, Hermann Struck und Hans Meid vertreten waren. In Magdeburg wirkte G. als freischaffender Porträt- und Kunstmaler, Radierer und Zeichner und erlangte mit vielfältigen graphischen Arbeiten (u.a. Porträts) und in Öl gemalten Magdeburger Stadtansichten größere Bekanntheit. Den avantgardistischen Kunstströmungen der 1920er Jahre schloss er sich nicht an. Erst ab Mitte der 1930er Jahre erhielt G. auch wieder vermehrt öffentliche Aufträge und führte u.a. Wandmalereien in Sgraffito und Fresko aus (nicht erhalten). Zudem beteiligte er sich mit größeren Arbeiten an regionalen Kunstausstellungen. G. gehörte zeitweilig dem Magdeburger Künstlerbund Börde, später dem Künsterverein St. Lukas an, ohne in nähere Verbindung mit Berufskollegen zu treten. Von Magdeburg aus bestückte G. zwischen 1909 und 1941 auch Kunstausstellungen in anderen deutschen Städten, u.a. in in Köln, Berlin, Stuttgart, Leipzig, Dresden, Gera, Chemnitz, München und Düsseldorf. Eine für 1943 geplante größere Werkschau des etablierten Künstlers im Magdeburger Kulturhistorischen Museum kam durch die Kriegseinwirkungen nicht mehr zustande. – Neben seiner graphischen trug G. nebenher auch eine umfangreiche botanische Sammlung zusammen und betreute von 1930 bis 1944 auf ehrenamtlicher Basis die botanischen Sammlungen des Magdeburger Naturkundemuseums. Unter Museumsdirektor Alfred Bogen engagierte er sich zudem im örtlichen Naturschutz. Durch die Zerstörung seines Ateliers im Januar 1945 wurden sein dort befindliches künstlerisches Werk, seine Graphiksammlung sowie seine wissenschaftlichen Unterlagen und Sammlungen zur mitteldeutschen Flora vollständig vernichtet. G. starb kurz vor Kriegsende in seinem Zufluchtsort Wegeleben bei Halberstadt an Herzversagen. Ein Teil seines künstlerischen Oeuvres (Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen) überstand durch Zufall als museales Auslagerungsgut die Kriegswirren.

Werke: Radierungen: Blick auf Johanneskirche und Dom, 1912; Schiffe auf der Elbe, 1915; Industriehafen, um 1925; Schleppzug auf der Elbe, 1933; weitere graphische Arbeiten (alle KHM Magdeburg) – Ölgemälde: Alte Herrenkrugbrücke, um 1935; Die Strombrücke Magdeburg, 1936 (alle KHM Magdeburg) – Wandgemälde: Magdeburger Rathaus, 1912/14 (zerstört) – Buchillustrationen: Johann Wolfgang von Goethe, Künstlers Erdewallen/Künstlers Apotheose, [1925]; M. I. Reich (Hg.): Indianertreue und andere Geschichten für die Jugend. Ein Geschenkbuch für amerikanische Freunde, 1930; Franz Lichtenberger: Magdeburger Sagen, [1931] – weitere Arbeiten: Märkisches Museum Berlin; National-Galerie Berlin, Kupferstichkabinett; Buchgewerbe-Museum Leipzig; Graphische Sammlungen Stuttgart; Kunstinstitut der Universität Marburg; Stadtmuseum Gera.

Nachlaß: Eberhard G., Köln (privat).

Literatur: Wer ist’s 8, 1922; Wer ist’s 10, 1935; Dressler 1930, S. 309; Thieme/Becker 14, S. 6; Vollmer 2, S. 241; (Kat.) Berliner Secession, 1910-1912; W. G. – Radierungen, 1911; (Kat.) Königliches Kupferstichkabinett Stuttgart. Ausstellung neuerer Berliner Graphik, 1913; (Kat.) Münchner Secession, 1913/14, 1916; (Kat.) Berliner Freie Secession 1914, 1916, 1919; Du mein Deutschland. Heimatbilder deutscher Künstler. Deutsche Gedichte, 1915; (Kat.) Dresdner Kunstgenossenschaft, 1917; Fritz Heyder (Hg.), W. G., Magdeburg (Die Zeichnung, H. 12), 1922; Karl Demmel (Hg.), Stil-Symphonie. Stimmungen aus Anhalts Schlössern, 1926; Die Deutsche Glocke 1931, 1931; (Kat.) Ausstellung von Gemälden und Bildwerken von Künstlern aus dem Gau Magdeburg-Anhalt, 1935; (Kat.) Kunstausstellung des Gaues Magdeburg-Anhalt, 1940; Henrike Junge, „Wohlfeile Kunst“. Die Verbreitung von Künstlergraphik seit 1870 und die Griffelkunst-Vereinigung Hamburg-Langenhorn, 1989; Norbert Eisold, Die Kunstgewerbe- und Handwerkerschule Magdeburg 1793-1963, 1993, S. 54; Matthias Puhle (Hg.), Magdeburg in Bildern von 1492 bis ins 20. Jahrhundert, 1997, S. 238-240, 293; Sabine Liebscher, W. G., in: Guido Heinrich/Gunter Schandera (Hg.): Magdeburger Biographisches Lexikon 19. und 20. Jahrhundert, 2002, S. 211f.; Gernot Ernst, Stadtbild Berlin im Spiegel der Druckgraphik, 2005.

Bildquelle: *Eberhard G., Köln (privat).

Guido Heinrich

letzte Änderung: 28.11.2005