Unruh, Hans Victor von
geb. 28.03.1806 Tilsit/Ostpreußen,
gest. 04.02.1886 Dessau,
Techniker, Ingenieur, Regierungs- und Baurat.

Als U. 1846 nach Magdeburg übersiedelte, um die Leitung des Eisenbahnbaus von Magdeburg nach Wittenberg zu übernehmen, galt er trotz seiner erst 40 Lebensjahre als einer der profundesten Kenner dieses Faches in Deutschland. Schon sehr frühzeitig widmete sich der als Sohn eines preußischen Generals geb. U. nach Abschluß seiner Gymnasialzeit in Neiße/ Ostpreußen und Königsberg diesem jungen ingenieurtechnischen Metier. U. studierte zunächst an der Berliner Bauakademie und legte bei Karl Friedrich Schinkel 1828 das Examen ab. Er trat in den preußischen Staatsdienst ein und wurde 1839 zum Regierungs- und Baurat in Gumbinnen/Ostpreußen und 1843 in Potsdam berufen, ehe er sich 1844 wieder aus dem Staatsdienst beurlauben ließ, um sich dem Eisenbahnbau zu widmen, wozu er mehrere Studienreisen u. a. mit dem “Lokomotivenkönig” August von Borsig durch Deutschland, Belgien, Frankreich und England nutzte. Nach dem Ausbruch der Revolution im März 1848 wurde U. relativ überraschend in die Preußische Verfassungsgebende Versammlung mit dem Mandat Magdeburgs gewählt, obwohl er nicht zu den bekannten Vormärzliberalen um die Bürgerversammlung bzw. die “Lichtfreunde”, die beiden wichtigsten Kristallisationspunkte der antifeudalen Opposition in der Stadt, gehörte. U. errang in den öffentlichen Versammlungen, in denen er sich nach den Märzereignissen als überzeugter Vertreter eines konstitutionellen Staatsmodells englischer Prägung präsentierte, vor allem das Vertrauen der gemäßigten Liberalen, die einen geeigneten Gegenspieler zu der sehr starken linksliberalen und demokratischen Gruppierung in der Stadt, die in Friedrich Pax ihren Kandidaten fand, suchten. Mit deren Stimmen und den Stimmen einiger Konservativer zog U. neben  Pax in das Berliner Parlament ein, wo er sich dem linken, später dem rechten Zentrum anschloß. Am 17.10.1848 wurde U. als Vizepräsident und am 28.10.1848 als Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung gewählt und somit unmittelbar in den Staatsstreich vom Herbst 1848 verwickelt. Sein politisches Agieren war davon geprägt, neue revolutionäre Kämpfe zu verhindern. An seinen liberal-konstitutionellen Zielen hielt er aber ebenso unbeirrt fest. Symptomatisch für diese komplizierte Zweifrontenstellung war sein Aufruf zum “passiven Widerstand” nach der Abschiebung des Parlaments von Berlin nach Brandenburg. Den bewaffneten Widerstand gegen die heraufziehende Konterrevolution lehnte er ebenso ab wie die vom linken Flügel der Versammlung durchgesetzte Steuerverweigerungskampagne. Im Januar 1849 wurde U. erneut mit dem Mandat Magdeburgs in die Zweite Kammer des Preußischen Landtages gewählt. Nach ihrer Auflösung durch den König infolge deren Anerkennung der Frankfurter Reichsverfassung sprach sich U. öffentlich gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht aus. Seine politische Haltung in der Revolutionszeit bescherte ihm ein Nachspiel in der Reaktionszeit. So lehnte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. nicht nur seine von den Magdeburger Stadtverordneten vorgeschlagene Ernennung zum Oberbürgermeister mit der zynischen Anspielung auf seinen “Gegenkönig” im Revolutionsjahr ab, sondern es folgten weitere berufliche Schikanen, so daß er sogar das lukrative Angebot des Baus einer großen Eisenbahnbrücke bei Köln über den Rhein ausschlug und 1855 nach Anhalt übersiedelte, um sich dem preußischen Einfluß zu entziehen. In Dessau gründete er die Deutsche Continental- Gasgesellschaft und baute in vielen deutschen Städten von Mönchengladbach im Westen bis Lemberg im Osten, auch in Magdeburg, städtische Gasanstalten. In Magdeburg beriet U. auch den Bau des Wasserwerkes auf dem Wolfswerder. Als Mitbegründer des Deutschen Nationalvereins 1859 und der Deutschen Fortschrittspartei, deren erster Vorsitzender U. 1861–63 war, kehrte er in die große Politik zurück und zog 1863, wieder mit dem Mandat Magdeburgs, in das preußische Abgeordnetenhaus ein. Trotz anfänglicher leidenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Ministerpräsidenten schwenkte U. wie viele Liberale dieser Zeit auf Otto von Bismarcks Politik ein, als dieser mit seiner “Revolution von oben” die Herstellung der deutschen Einheit vollzog. Als infolge dieser Annäherung die Deutsche Fortschrittspartei zerbrach, gründete U. mit Rudolf von Benningsen 1867 die Nationalliberale Partei Deutschlands. Erneut mit dem Mandat Magdeburgs wurde U. 1867–79 Mitglied des Norddeutschen bzw. Deutschen Reichstages und nahm auch als dessen Abgesandter an der Kaiserproklamation in Versailles am 18.01.1871 teil. Im Parlament führte er das Abstimmungsverfahren nach dem sogenannten “Hammelsprung” ein, bei dem zum Zweck der Verkürzung des Verfahrens die Abgeordneten durch Betreten des Plenarsaales durch zwei dafür bestimmte Türen mit pro oder contra stimmten, was das lästige Verfahren des Namenaufrufens ersparte. Anläßlich seines 70. Geburtstags erhielt U. den Ehrenbürgerbrief Magdeburgs und 1880 auch den der Stadt Dessau.

Werke: Skizzen aus Preußens neuester Geschichte, 1849; Erfahrungen aus den letzten drei Jahren. Ein Beitrag zur Kritik der politischen Mittelparteien, 1851; Heinrich von Poschinger (Hg.), Erinnerungen aus dem Leben von H. V. v.U., 1895.

Literatur: ADB 39, 312–315; Mitteldt Leb 4, 274–294 (B); Vf., H. V. v.U., in: Mathias Tullner (Hg.), Persönlichkeiten der Geschichte Sachsen-Anhalts, 1998, 469–473 (B).

Bildquelle: *StadtA Magdeburg.

Jürgen Engelmann

letzte Änderung: 19.08.2004