Hamann, Heinrich Richard,
Prof. Dr. phil. habil. |
Der in der Magdeburger Börde geborene Sohn eines Postschaffners besuchte die Oberrealschule und das Gymnasium des Klosters Unser Lieben Frauen in Magdeburg und legte 1898 dort das Abitur ab. Anschließend studierte er Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Berlin und promovierte 1902 bei Wilhelm Dilthey mit einer Arbeit über “Das Symbol”. Nach Überwindung einer schweren Krankheit, die ihm zeitweilig nur mehr das Betrachten von Bildern erlaubte, wandte er sich endgültig der Kunstgeschichte zu, lebte in den folgenden Jahren als Privatgelehrter in Berlin und verfaßte zahlreiche kunstgeschichtliche Arbeiten. Neben wegweisenden Monographien zur italienischen Malerei der Frührenaissance und zum Impressionismus verfaßte er gemeinsam mit dem Magdeburger Archivar Felix Rosenfeld einen kunstwissenschaftlich bemerkenswerten Band über den Magdeburger Dom. 1911 habilitierte er sich bei Heinrich Wölfflin, wurde noch im gleichen Jahr als Professor für Kunstgeschichte an die Akademie in Posen und 1913 an das neueingerichtete Ordinariat an der Universität Marburg berufen, wo er bis über seine 1949 erfolgte Emeritierung hinaus eine weitgespannte und fachwissenschaftliche Maßstäbe setzende Forschungs-, Lehr- und Sammlertätigkeit entfaltete. H. gliederte in Marburg dem kunstgeschichtlichen Seminar eine fotografische Abteilung an, die als “Bildarchiv Foto Marburg” weltbekannt wurde. Gemeinsam mit seinem Sohn und seinen Schülern sammelte er auf zahlreichen wissenschaftlichen Exkursionen umfangreiches Bildmaterial von Kunstwerken aller Zeiten (ca. 250.000 Negative) und stellte damit die Fotografie in den Dienst der Kunstgeschichte. Zudem schuf er mit dem 1922 gegründeten Verlag des Kunstgeschichtlichen Seminars und dem 1929 eingerichteten Forschungsinstitut für Kunstgeschichte, dem er bis 1957 als Direktor vorstand, eine in dieser Komplexität einzigartige kunstgeschichtliche Forschungs-, Lehr- und Dokumentationsstätte. H.s eigene, auf Formanalyse zentrierte Forschungstätigkeit umfaßte die gesamte europäische Kunstgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, wobei er insbesondere durch seine intensive Beschäftigung mit der deutschen und französischen Kunst des Mittelalters, mit Rembrandt und der deutschen Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts der Kunstwissenschaft seiner Zeit neue Wege wies. Seine von ihm in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft und Philosophie gewonnene Auffassung von der gesetzmäßigen Entwicklung der Stile und der Gesamtkultur von einem Früh- zu einem Endstadium (archaisch, klassisch, barock), die er auf die Antike, das Mittelalter und die Neuzeit applizierte, fand ihren essentiellen Niederschlag in seiner in zahlreichen Neuauflagen erschienenen zweibändigen “Geschichte der Kunst” (1933/1952). Nach dem II. Weltkrieg übernahm H. neben seiner Tätigkeit in Marburg 1947 auch eine Gastprofessur für Kunstgeschichte an der Humboldt- Universität in Berlin. Als ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften (seit 1949) leitete er seit 1954 deren Arbeitsstelle für Kunstgeschichte. H. war Herausgeber und Mitherausgeber einflußreicher Fachpublikationen wie des “Marburger Jahrbuches für Kunstwissenschaft” (1924–50) und der “Schriften zur Kunstgeschichte” (1957–61). Durch seine wissenschaftliche Forschungs- und Lehrtätigkeit prägte er eine ganze Generation von deutschen Kunstwissenschaftlern. Neben zahlreichen Ehrungen wurde H. auch mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet.
Werke: Der Impressionismus in Leben und Kunst, 1907; Der Magdeburger Dom. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik mittelalterlicher Architektur, Ornamentik und Skulptur, 1910 (mit Felix Rosenfeld); Ästhetik, 1911; Die Deutsche Malerei im 19. Jahrhundert, 1914; Deutsche und französische Kunst im Mittelalter (2 Bde), 1922–1923; Die deutsche Malerei vom Rokoko bis zum Expressionismus, 1925; (Hg.) Die frühmittelalterlichen Bronzetüren (4 Bde), 1926–1953; Aufsätze über Ästhetik, 1948; Die Abteikirche von St. Gilles und ihre künstlerische Nachfolge (3 Bde), 1955, 21956; Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus (3 Bde), 1959–1965 (mit Jost Hermand).
Nachlaß: Universität Marburg.
Literatur: NDB 7, 578f.; Hdb SBZ/DDR, 274; Wer war wer DDR, 308f.; Fs. für R. H. zum 60. Geburtstag 29. Mai 1939, 1939 (*B); R. H. in memoriam. Mit zwei nachgelassenen Aufsätzen und einer Bibliographie der Werke R. H.s, in: Schriften zur Kunstgeschichte, Bd. 1, 1963 (B); G. André, R.H. Marburger Gelehrter der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, 1977; R. H. zum 100. Geburtstag am 29. Mai 1979, 1981.
Bildquelle: Universität Marburg, Kunstgeschichtliches Seminar.
Guido Heinrich
letzte Änderung: 02.02.2005