Mellin, Georg Samuel Albert, Dr.
theol. h.c. et phil. h.c. |
Nach Schulbesuch und Studium in Halle (ab 1772) sowie einer kurzer Hauslehrerzeit in Magdeburg wurde M. Rektor der reformierten Schule in Züllichau und Hilfsprediger an der dortigen Schloßkirche. Als zweiter Prediger der reformierten Gemeinde ging M. nach Brandenburg, wo ihn anscheinend der an der Ritterschule tätige Mathematiker Lange auf die Philosophie Kants aufmerksam machte. 1791, nach dem Tod seiner ersten Frau – M. war in zweiter Ehe mit Rosamunde von Katte verheiratet, aus der u. a. der Sohn Friedrich Albert Immanuel M. hervorging –, wechselte M. nach Magdeburg auf die Stelle des dritten Predigers der Deutsch-Reformierten Gemeinde. 1793 wurde er zweiter, 1801 erster Prediger und Konsistorialrat, 1804 schließlich Inspektor der Diözese. Während der französischen Besetzung war M. auch Mitglied des Stadtrates. Besondere Verdienste erwarb er sich durch seinen Einsatz für die Wiederinstandsetzung der Deutsch-Reformierten Kirche, die 1806–14 von französischen und preußischen Truppen als Pferdestall benutzt worden war. M., der zeit seines Lebens als Theologe wirkte, galt dem lesenden Publikum als Erklärer der Philosophie Immanuel Kants, die seit dem Erscheinen der “Kritik der reinen Vernunft” (1781) heftig diskutiert wurde. Kaum in Magdeburg, gründete M. eine Gesellschaft zum Studium der kritischen Philosophie, so daß er Kant am 12.04.1794 schreiben konnte, daß “das Studium der kritischen Philosophie sich hier sehr ausbreitet” (Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. 11, 498). In seinem ersten Buch, den zweibändigen “Marginalien und Register zu Kants Critik der Erkenntnißvermögen” (1794/95), bot M. eine absatzweise Zusammenfassung der drei Kritiken Kants sowie ein Register. Kant lobte in seinem einzigen erhaltenen Brief an M. deren “ausnehmende Klarheit der Darstellung” (Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. 23, 498), und Ludwig Goldschmidt, der die “Marginalien” 1900 und 1901 neu herausgab, pries im Vorwort M.s “einsichtsvolle Nachfolge”, die “in der Geschichte der Philosophie nahezu einzig” dastehe. Es folgte 1796 die “Grundlegung zur Metaphysik der Rechte oder der positiven Gesetzgebung. Ein Versuch über die ersten Gründe des Naturrechts”, mit der M. eine Systematisierung der in Kants “Zum ewigen Frieden” (1795) enthaltenen Rechtsphilosophie versuchte. Als M.s Hauptwerk gilt das sechsbändige “Encyclopädische Wörterbuch der Kritischen Philosophie” (1797–1803, Reprint 1970–71). Kein anderer Autor erklärte so ausführlich wie M. die grundlegenden Begriffe Kants, etwa den zentralen Begriff der sinnlichen Anschauung: “wenn wir die Stadt sehen, fällt Vorstellung und Gegenstand zusammen, beides ist völlig eins, zwischen dem Gegenstande, Magdeburg, und meiner Erkenntnis davon, ist nicht noch ein Mittel, etwa Begriffe und Bilder der Phantasie, welche machen müssten, dass meine Erkenntnis von Magdeburg mit dieser Stadt übereinstimmte, sondern beides ist eins” (“Encyclopädisches Wörterbuch”, Bd. 1, 1797, 257). M. interpretiert die sinnliche Anschauung als Identität von Gegenstand und Vorstellung, weshalb “dieselbe Anschauung uns nicht durch einen andern Gegenstand bewirkt werden” könne (ebd., 258). Erst wenn der Verstand “das, was angeschauet, […] als Gegenstand oder Object überhaupt, dem nun Prädicate beigelegt werden sollen”, denkt (ebd., 488f.), treten Gegenstand und (begriffliche) Erkenntnis auseinander. M. deutet damit den unmittelbaren Gegenstandsbezug der Anschauung, von dem Kant in der “Kritik der reinen Vernunft” (A 19/B 33) spricht, als einen Aspekt der “unmittelbare[n] Vorstellung”, deren zweiter Aspekt der Gegenstand sei (ebd., Bd. 2, 702). Hans Vaihingers Protest gegen diese Interpretation (“Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft”, 2 Bände, 1881–1892, 21922, Bd. 2, 2) belegt, daß M. viel freier mit Kants Text umging, als es seinem Ruf als “getreuer, wenn auch ziemlich sklavischer, Interpret Kants” entsprechen würde (Karl Vorländer, Immanuel Kant, 1924, 31992, Bd. 2, 241). 1815 promovierte die philosophische, 1816 (?) die theologische Fakultät der Universität Halle M. zum Doktor ehrenhalber. Da M. in seinem Brief an Kant vom 13.04.1800 (Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. 12, 303) bedauerte, ihn nicht kennengelernt zu haben und auch Kants Vertrauter Wasianski nach Kants Tod in seinem Schreiben an M. vom 05.08.1805 (in: Ludwig Goldschmidt, Kantkritik oder Kantstudium?, 1901, XIVf.) kein Treffen erwähnt, ist nicht anzunehmen, daß M. dem von ihm verehrten Kant jemals persönlich begegnet ist.
Werke: s. o.; Kunstsprache der kritischen Philosophie oder Sammlung aller Kunstwörter derselben, 1798; Anhang zur Kunstsprache 1800; Begriff, in: Johann Samuel Ersch/Johann Gottfried Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Bd. 8, 1822, 352f.
Literatur: ADB 21, 300f.; Neuer Nekr 3, 1825, 1342; Ralph Meyer, Geschichte der Deutsch-Reformierten Gemeinde zu Magdeburg, Bd. 2, 1914, bes. 10–16, auch 180–203 (*B); Friedrich Lammert, Zum hundertsten Todestage M.s., in: MonBl. 67, 1925, 44f.
Hanno Birken-Bertsch