Tollin, Henri Guillaume (Wilhelm) Nathanael, Lic. theol., Dr. med.h.c.
geb. 05.05.1833 Berlin,
gest. 11.05.1902 Magdeburg,
evangelischer Pfarrer, Physiologe, Kirchenhistoriker.

Der Sohn des Pfarrers Eduard T. hugenottischer Abstammung wurde mit sechs Jahren Vollwaise und wuchs in der Berliner Lehrerfamilie Weber auf, die sich zur Französischen Kolonie hielt. T. besuchte neun Jahre das College des Französischen Gymnasiums zu Berlin, das er als Primus omnium verließ. Er studierte 1852–57 evangelische Theologie in Berlin und Bonn. Schon während des Studium erwachte sein intensives Interesse an der Geschichte der Hugenottenkirche. 1857 legte er in Berlin das Lizentiaten-Examen ab und wurde vom Konsistorium der Französischen Kirche Berlin als Predigtamtkandidat aufgenommen. 1858 bestand er die Prüfung für den höheren Schuldienst und legte 1859 die zweite theologische Prüfung ab. 1859–62 gab er Französischunterricht am Französischen Gymnasium in Berlin und übernahm gleichzeitig Predigtvertretungen in Berlin und in den französisch-reformierten Gemeinden der Umgebung. Nach seiner Ordinierung war T. seit 1862 als Hilfs- und später als zweiter Prediger an der Evangelisch-Reformierten Gemeinde Frankfurt/Oder tätig. Nach gescheiterten Bewerbungen um eine Pfarrstelle in Berlin arbeitete er 1871–75 als reformierter Prediger in Schulzendorf/Mark Brandenburg. Von 1876 bis zu seinem Tode war T. Prediger der Französisch-Reformierten Gemeinde Magdeburg. Von Magdeburg aus entfaltete er eine beachtliche und weitreichende Tätigkeit. Er gründete 1880 in Magdeburg einen Erziehungsverein für sittlich gefährdete und verwaiste Kinder, arbeitete im Vorstand der Magdeburger Hilfsgesellschaft für die Heidenmission, im Revisorenamt bei der Kasse des Gustav-Adolf-Zweigvereins, als Synodalvertreter der Inneren Mission und der Heidenmission. Er war Mitglied des Vorstandes der reformierten Kreissynode und unterstützte den Israelischen Witwen- und Waisenverein. T. gehörte der wissenschaftlichen Theologischen Gesellschaft und dem Geschichtsverein für Stadt und Land Magdeburg an, war Mitglied der Loge “Ferdinand zur Glückseligkeit” sowie seit 1888 korrespondierendes Mitglied der Allgemeinen Allianz reformierter Kirchen presbyterianischer Ordnung. 1884 gehörte er zu den Gründern des Reformierten Bundes, der zum Zwecke der gemeinsamen Ausrichtung der in reformierter Herkunft und Verantwortung stehenden Gemeinden und Kirchen und zur Koordinierung der Aktivitäten in der Gemeinschaft mit anderen evangelischen Kirchen ins Leben gerufen wurde. Nach einem Aufruf der Magdeburger Französisch-Reformierten Gemeinde an alle Hugenottengemeinden Deutschlands im Jahre 1888 gründete er 1890 in Friedrichsdorf im Taunus den Deutschen Hugenotten- Verein, dessen Ziele es sind, Glaubensüberzeugung und Geschichte der Hugenotten verständlich zu machen, bei der Familienforschung zu beraten und die Verständigung zwischen den Völkern, Rassen und Religionen im Geist gegenseitiger Achtung und Toleranz zu fördern. T. wurde erster Vorsitzender dieses Vereins, dessen erster Sitz Magdeburg war. 1880 begründete er in der Französisch-Reformierten Gemeinde eine Sonntagsschule, die allen Kindern der Magdeburger Innenstadtgemeinden offenstand und von mehr als 100 Kindern regelmäßig besucht wurde. Neben der praktischen Arbeit widmete sich T. auch wissenschaftlichen Studien. Der Hauptanteil seines umfangreichen wissenschaftliches Werkes bezieht sich auf theologische Fragen, Aspekte der Kirchengeschichte und insbesondere auf die Geschichte der Hugenottengemeinden in Preußen. Durch seine Arbeiten zu den Hugenotten wurde er zum bedeutendsten Forscher des Hugenottentums. Darüber hinaus betrieb er umfangreiche Studien über den spanischen Arzt und Mystiker Michael Servet, den großen Gegner Calvins in Genf. Für den von ihm angetretenen Beweis, daß nicht William Harvey, sondern Servet der erste war, der den Blutkreislauf im menschlichen Körper beschrieb, erhielt er 1884 die akademische Auszeichnung eines Dr. med. h.c. der Universität Bern.

Werke: Die hohenzollern’sche Colonisation und die wallonische Gemeinde zu Magdeburg, in: GeschBll 11, 1876, 192–208; Die wallonische Gemeinde vor ihrer Einwanderung nach Magdeburg, in: ebd. 11, 1876, 345–423; Charakterbild Michael Servet’s, 1876; Die Entdeckung des Blutkreislaufes durch Michael Servet, 1876; Das Lehrsystem Michael Servet’s, genetisch dargestellt (3 Bde), 1876–78; August Wilhelm Franke, in: GeschBll 19, 1884, 1–46, 113–140, 225–265 und ebd. 20, 1885, 1–30; Geschichte der französischen Colonie von Magdeburg (6 Bde), 1887–94; Der Bau der französischen Kirche in Magdeburg, in: GeschBll 24, 1889, 273–334; Die Hugenotten in Magdeburg, in: Geschichts-Blätter des Deutschen Hugenotten-Vereins 1, H. 1, 1890; Urkunden zur Geschichte hugenottischer Gemeinden in Deutschland, in: ebd. 2–12, 1891–1901 (jeweils H. 10); Hugenottische Topographie von Magdeburg, in: GeschBll 28, 1893, 100–184 und ebd. 29, 1894, 1–50; Johann Duraeus, in: ebd. 32, 1897, 227–285; ebd. 33, 1898, 26–81; Salomon Pericard, der Kolonisator, in: Geschichts-Blätter des Deutschen HugenottenVereins 11, H. 2/3, 1902, 3–38.

Literatur: BioJb 7, 1902; RE 19, 31907; BBKL 12, Sp. 297–303 (W, L); Friedrich Heinrich Brandes, H. W. N. T., in: Geschichts-Blätter des Deutschen Hugenotten-Vereins 11, H. 8/9, 1902, 3–46; August Hirsch, Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker (vor 1880), Bd. 5, 21934; Walter Mogk, H. T.-Bibliographie, in: Der Deutsche Hugenott 34, 1970, 71–84, 100–107; ebd. 35, 1971, 11–14, 48f.; Jochen Desel (Hg.), 100 Jahre Deutscher Hugenotten-Verein 1890–1990, 1990 (B).

Bildquelle: *H. T., Geschichte der französischen Colonie von Magdeburg, Bd. III, Abt. C1, 1894, 305.

Henner Dubslaff

letzte Änderung: 01.03.2005