Projektbeschreibung

1. Zwischen Erinnern und Vergessen
„Nur deshalb spricht man soviel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt“ lautet ein vielzitierter Satz des französischen Historikers Pierre Nora. Gedächtnis - dies bezeichnet für Nora unsere kollektive Fähigkeit der Kommunikation zwischen Epochen und Generationen, die einen gemeinsamen und deshalb verbindenden Fundus an lebendigem Wissen zu erbringen vermochte. Aus diesem Wissensfundus konnten die Generationen vor uns nicht nur ein fest umgrenztes Selbstverständnis vor dem Hintergrund einer breiten und vielschichtigen Vergangenheit, sondern auch eine geregelte und in ihren Grundzügen absehbare Zukunft entwerfen.
Ein solches Wissen vorausgehender Generationen ist den Heutigen nur noch in sogenannten „Gedächtnisorten“ zugänglich. Gedächtnisorte sind Orte mit realer und symbolischer Bedeutung. Denkmale, Gedenktage, historische Gebäude, traditionsstiftende Texte, Archive – um nur einige zu nennen – gehören sowohl der Gegenwart als auch der Vergangenheit an. Gedächtnisorte sind Zeugnisse eines Willens, etwas im Gedächtnis festzuhalten und zu überliefern. Sie sind auf unterschiedlichste Weise Wissensspeicher, durch die wir Gegenwart und Vergangenheit mit einem Blick erfassen können.
Fest steht: wo ein gemeinsames, verbindendes Wissen abhanden kommt, bricht die Verständigung zwischen den Epochen und Generationen ab, wird das, was in den vielfältigen Formen der Tradition, im Brauchtum und in der Wiederholung der Überlieferung wurzelte, aufgelöst und dem Vergessen überantwortet. Unter den Bedingungen der heutigen Mediengesellschaft mit ihrer Vorliebe für das Flüchtige und den Augenblick scheint der Bruch mit der Vergangenheit und das Abreißen des verbindenden Gedächtnisses unvermeidlich. Wir können jedoch zugleich konstatieren, daß aus der zunehmenden Gleichgültigkeit gegen eine in vielerlei Hinsicht in Frage gestellte Tradition auch der Impuls erwächst, das solchermaßen dem Vergessen Überlassene als im Sinne des Wortes Frag-würdiges zu begreifen, zu sichern und zu bewahren.
Das gegenwärtig erneuerte Interesse an der eigenen Geschichte hat viele Gründe. Einer der vorrangigsten ist die Frage nach der Herkunft, den Wurzeln – ist das Bedürfnis, sich seiner eigenen Identität zu vergewissern. Geschichte, das sind nicht nur die Sachzeugen der Vergangenheit, es sind vor allem die Menschen vorausgehender Generationen, die das Gedächtnis einer Region ausmachen.

2. Das Projekt Magdeburger Biographisches Lexikon (MBL)
Genau hier setzt das Projekt Magdeburger Biographisches Lexikon an. Es widmet sich der Erfassung und Dokumentierung von Individualbiographien, die Geschichte auf je eigene, unverwechselbare Art enthalten, weil die dahinter stehenden Personen diese Geschichte im lokalen, regionalen oder überregionalen Maßstab signifikant beeinflußt haben. Über Jahrzehnte Verschüttetes und Verdrängtes – der letzte Versuch einer solchen Bestandsaufnahme für die Region Magdeburg stammt aus den 1920er Jahren – soll damit als erneuerter Informationsfundus nicht nur der weiteren wissenschaftlichen Forschung, sondern allen Interessierten zur Verfügung stehen.
Die in biographischer Hinsicht bis heute wenig befriedigende wissenschaftliche Erschließung großer Teile der regionalen Geschichte Sachsen-Anhalts, insbesondere der Geschichte der Stadt und Region Magdeburg, resultiert nicht allein aus den jüngsten gesellschaftlichen Umbrüchen. Was die Zerstörungen und der Verlust von Archivbeständen im Zweiten Weltkrieg, was die ideologischen Überlagerungen und Verzerrungen vor und nach diesem Ereignis im Nationalsozialismus wie in der DDR für das Geschichts- und Traditionsbewußtsein der Stadt und der Region bedeuten, läßt sich gegenwärtig nirgends besser ablesen als an den vorhandenen Irritationen über die Gültigkeit vergangener und gegenwärtiger gesellschaftlicher Werte und Normen. Unzweifelhaft steht aber die Erschließung von Zukunfts- und Entwicklungsperspektiven in enger Wechselwirkung mit der Art und Weise, wie Vergangenheit erfaßt und aufgearbeitet worden ist.
Es gilt, eine merkliche Lücke in der regionalgeschichtlichen Forschung zu schließen. Für den Bereich der Biographie liegen zu Magdeburg und den umliegenden Landkreisen neben einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen entweder nur räumlich und zeitlich weit gefaßte Übersichtswerke[1] oder Arbeiten ohne wissenschaftliche Systematik[2] vor. Mit dem Magdeburger Biographischen Lexikon wird erstmals ein wissenschaftlich fundiertes biographisches Archiv vorgestellt, das Informationen aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens im untersuchten Zeitraum bietet und diese auf der Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Standards der Lexikographie verzeichnet. Der eingehend untersuchten Ereignisgeschichte wird damit eine detaillierte Personengeschichte als notwendiges Komplementum an die Seite gestellt. Mit den Ergebnissen der Projektarbeit wurde am Redaktionssitz auch ein jederzeit nutz- und erweiterbarer Fundus (umfangreiche Datenbanken und Materialsammlungen) für weiterführende Untersuchungen im Bereich der regionalen Geschichte geschaffen.

[1]  Mitteldeutsche Lebensbilder, hg. von der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und für Anhalt, Magdeburg 1926-1930 (5 Bde); Dietrich Löffler/Mathias Tullner (Hrsg.): Frauen und Männer aus Deutschlands Mitte. Persönlichkeiten aus der Geschichte Sachsen-Anhalts, Halle/S. 1996; Mathias Tullner (Hrsg.): Persönlichkeiten der Geschichte Sachsen-Anhalts, Halle/S. 1998.

[2]  Martin Wiehle: Magdeburger Persönlichkeiten, Magdeburg 1993; ders., Altmark-Persönlichkeiten, Oschersleben 1999; ders., Börde-Persönlichkeiten. Biographisches Lexikon der Magdeburger Börde, Oschersleben 2001.

3.  Rahmenfestlegungen zur Projektarbeit
Das Projekt MBL widmet sich seit seiner Entstehung 1998 der Untersuchung kleinerer politisch-geographischer Einheiten im Bundesland Sachsen-Anhalt. Dieser Ansatz bietet gegenüber herkömmlichen Verfahren, Übersichtswerke für größere, historisch determinierte Territorien zu erstellen, weiterführende Möglichkeiten:
a) Durch strikte Eingrenzung des Untersuchungsgebietes ist es gelungen, insbesondere auch jene Personen zu erfassen, die die gesellschaftliche Entwicklung vor Ort mitgetragen und „nur“ lokale oder regionale Bedeutung erlangt haben. Auf diese Weise können zugleich Personen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens in die Untersuchung einbezogen werden.
Biographische Übersichtswerke, die ein größeres Territorium zugrunde legen, eleminieren dagegen tendenziell nicht nur das lokal und regional Bedeutende zugunsten überregionaler Zusammenhänge, sondern ebnen auch die gesellschaftlichen Spezifika einzelner Regionen (etwa der Altmark, der Börde, des Harzes und Harzvorlandes etc.) zugunsten einer Präsentation kulturgeschichtlich isolierter Einzelbiographien ein. Dies führt in der Regel nicht nur zu einer Unterrepräsentierung der ländlichen Regionen gegenüber Großstädten und Ballungszentren, sondern auch zu einer Ausklammerung ganzer Sachgebiete aus dem Kanon biographischer Forschung.
b) Detaillierte, kontextbezogene Untersuchungen machen strukturelle Verbindungen zwischen verschiedenen Sachgebieten sichtbar, die durch gezielte Querverweise im Text nachvollzogen werden können. Die Biographie als verlebendigte Geschichte gibt somit auch Einblicke in das gesellschaftliche „Mikroklima“ einer Region.
c) Letztlich gewährt eine sinnvolle territoriale Beschränkung die Chance, das konkrete Verhältnis eines kulturellen und wirtschaftlichen Zentrums zu seinem Umland anhand von Lebensläufen detailliert auszuleuchten. Erst so wird verbürgt, daß neben den städtischen auch die ländlichen Regionen in ihrer personalen Eigenständigkeit und ihrer Wechselwirkung angemessen gewürdigt werden.

3.1. Territoriale Eingrenzungen
Der Untersuchungshorizont wurde geographisch auf die erweiterte Region Magdeburg eingeschränkt. Sie wird definiert als der mittlere Teil des Regierungsbezirkes Magdeburg (Elbe-Börde-Heide-Kreis), der das Gebiet der Landeshauptstadt Magdeburg und die Gebiete der Landkreise Bördekreis, Jerichower Land, Ohrekreis und Schönebeck als gegenwärtige territoriale Verwaltungseinheiten (Stand: 1998) umfaßt.

3.2. Zeitliche Eingrenzungen
Erfasst wurden und werden Personen des 19. und 20. Jahrhunderts, die das gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle, politische usw. Leben im beschriebenen Untersuchungsgebiet signifikant beeinflußt haben. Dies schließt neben den in der Region Magdeburg geborenen und/oder verstorbenen Personen auch solche ein, die zwischen 1800 und 2002 hier vorübergehend tätig waren.
Lebende Personen sind ausgeschlossen. Die biographischen Artikel zielen auf die Würdigung eines abgeschlossenen Lebenswerkes. Dabei werden die Darstellung der Vita und der besonderen Leistungen durch exakte Quellen- und Literaturangaben sowie  durch ein Bild und Hinweise auf den Verbleib des Nachlasses (sofern möglich) ergänzt.

4. Daten zum Projekt Magdeburger Biographisches Lexikon (MBL)

Stand:

01.01.2005

Projektbeginn:

September 1998

Untersuchungsgegenstand:

Biographien zeitgeschichtlich bedeutender Personen aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens

Untersuchungszeitraum:

19. und 20. Jahrhundert

Untersuchungsgebiet:

Landeshauptstadt Magdeburg, Landkreis Bördekreis, Landkreis Jerichower Land, Landkreis Ohrekreis, Landkreis Schönebeck

Erfaßte Biographien:

1.781

Beteiligte Autoren:

357

Herausgeber:

Guido Heinrich, M.A.  (seit 1998)

Prof. Dr. Gunter Schandera  (1998-2002)   (verstorben 2002)

Mitarbeiter:

Doz. Dr.-Ing. Werner Hohaus (1998-2000)
Dipl.-Ök. Margrit Friedrich  (1998-2001)
Dipl.-Ing. Horst-Günter Heinicke  (1998-2002)
Dipl. paed. Ralf Kersten  (2001-2003)
Dipl. jur. Dirk Hermann  (2002-2003)
Dr.-Ing. Rainer Schmücking  (2002-2005)