Wegener,
Hugo Paul Theodor Christian Philipp,
Prof.
Dr. phil. |
W., dessen Vater zunächst als Konrektor der gehobenen Knabenschule in Neuhaldensleben, später als evangelischer Pfarrer in Süplingen und Olvenstedt bei Magdeburg wirkte, verlebte seine Kindheit in Olvenstedt und besuchte nach Privatunterricht ab 1859 das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen in Magdeburg. Ab 1867 studierte er zunächst evangelische Theologie und Philosophie in Marburg, ab Herbst 1868 Klassische und Germanische Philologie in Berlin u. a. bei Moritz Haupt, Adolf Kirchhoff und Karl Müllenhoff. Nach seiner 1871 erfolgten Promotion erwarb er Anfang 1872 die facultas docendi für Latein, Griechisch und Deutsch für alle Klassen und arbeitete anschließend als wissenschaftlicher Hilfslehrer in Magdeburg (1872), Treptow an der Rega/Pommern (1872–74) und Zeitz (1874–76), wo er sich besonders mit den Beständen der in der Zeitzer Stifts-Bibliothek befindlichen Handschriften beschäftigte. 1876 wechselte er als Lehrer an das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen in Magdeburg, wo er 1884 zum Oberlehrer ernannt wurde. Zwei Jahre später bewarb er sich erfolgreich um das Direktorat des Gymnasiums seiner Heimatstadt Neuhaldensleben. 1898 zum Direktor des Gymnasiums in Greifswald berufen, leitete er dort seit 1902 auch das Pädagogische Seminar für Lehramtskandidaten und übte beide Ämter bis zu seinem Tode aus. Ausgehend von seinen Sprachstudien in der Klassischen Philologie widmete sich W. insbesondere in Magdeburg und Neuhaldensleben umfangreichen Forschungen zur Volkssprache und zu niederdeutschen Dialekten. W. legte frühzeitig eine Vielzahl von unterschiedlichen Sammlungen für das Sprachgebiet an (Wörter und Wendungen, volkstümliche Sprüche, Redeweisen, Lieder und Idiotismen, Bräuche, Sagen und Märchen), denen er das empirische Material (Sprachproben) für seine sprachtheoretischen und sprachgeschichtlichen Untersuchungen entnahm und deren Publikation einen bedeutenden Beitrag zur volkskundlichen Erforschung des “Magdeburger Landes” leistete. Seine systematischen Untersuchungen zum Verhältnis von Volks- und Schriftsprache sowie zur Dialektbegrenzung bezogen neben dem lexikalischen auch sein Interesse am grammatischen Teil (Lautlehre, Flexion, Wortbildung, Syntax, Satzgefüge) ein und verknüpften die Sprachbefunde darüber hinaus mit relevanten kulturgeschichtlichen Befunden, die der vertieften Erkenntnis des niederdeutschen Volkslebens dienten. Seit 1877 gehörte W. in Magdeburg dem Verein für niederdeutsche Sprachforschung und dem Verein für Geschichte und Alterthumskunde des Herzogtums und Erzstifts Magdeburg, seit 1878 als Vorstandsmitglied, an, engagierte sich jedoch maßgeblich als Fachreferent und Sekretär im neu gebildeten Verein zur Erforschung der niederdeutschen Sprache und Litteratur zu Magdeburg. In seine analytische Methodik integrierte W. vor allem sprachpsychologische Überlegungen, mit denen er kontroverse, für die Sprachwissenschaften überaus fruchtbare Diskussionen anstieß. Auf den Versammlungen deutscher Philologen und Schulmänner, die er seit 1878 besuchte, betonte W. u. a. die eminente Wichtigkeit der Dialekte als “baustein zur construction der sprachgeschichte” und setzte sie in ihrer Bedeutung und Wertigkeit zur Erforschung der deutschen Stammesgeschichte anderen Sprachen, auch den klassischen, gleich. Seine Anregungen zur Erarbeitung einer Reihe von Dialektgrammatiken in streng wissenschaftlicher und einheitlicher systematischer Form wurde von der Sprachwissenschaft jedoch nicht aufgegriffen. Seit Ende der 1870er Jahre traf W. bei diesen Versammlungen wiederholt mit Hermann Paul zusammen, dessen “junggrammatische” Richtung ihn in der Folge beeinflußte und auf die er selbst durch konstruktive Kritiken positiven Einfluß nahm. W.s Plädoyer für die Einbeziehung auch der psychischen Ursachen des Lautwandels (neben den physiologischen) in die Sprachforschung, gab Paul fruchtbare Impulse zur Umarbeitung maßgeblicher Kapitel seiner “Principien der Sprachgeschichte” (1882). Seine eigenen sprachwissenschaftlichen Auffassungen legte W. erstmals 1885 gebündelt in den “Untersuchungen über die Grundfragen des Sprachlebens” vor, die in der Fachwelt große Resonanz fanden. Im direkten Zusammenhang mit seinen sprachwissenschaftlichen Studien entwickelte W. auf der Basis der Pädagogik und Psychologie Johann Friedrich Herbarts auch selbständige Vorstellungen zum Sprachunterricht und zu den unterschiedlichen Schulformen sowie zu Ziel und Methode der Erziehung, die er durch Forschungsbeiträge immer wieder in die aktuellen Fachdiskussionen einbrachte. Neben diesen Tätigkeiten betrieb W. in Neuhaldensleben, angeregt durch den dortigen Aller-Verein, dessen Ehrenmitglied er lange Jahre war, als einer der ersten ur- und frühgeschichtliche Forschungen und Grabungen. Er schuf in diesem Zusammenhang eine reichhaltige vorgeschichtliche Sammlung am Neuhaldensleber Gymnasium, die später mit der Sammlung des Aller-Vereins vereint und 1910 dem neu gegründeten Museum Neuhaldensleben angegliedert wurde. W.s Wirken und seine Bedeutung als Linguist und Pädagoge wurden erst in jüngster Zeit neu entdeckt und angemessen gewürdigt.
Werke: Hochzeitsbräuche des Magdeburger Landes, in: GeschBll 13, 1878, 225–255 und 14, 1879, 68–100, 184–222; Idiotische Beiträge zum Sprachschatze des Magdeburger Landes, in: ebd. 13, 1878, 416–443 und 18, 1883, 381–399; Volkstümliche Lieder aus Norddeutschland, besonders dem Magdeburger Lande und Holstein (3 Hefte), 1879–1880; Ueber deutsche Dialectforschung, in: Zs. für deutsche Philologie 11, 1880, 450–480; Festgebräuche des Magdeburger Landes aus dem Volksmunde gesammelt, in: GeschBll 15, 1880, 245–274, 374–389; Sagen und Märchen des Magdeburger Landes aus dem Volksmunde gesammelt, in: ebd. 15, 1880, 50–75; Zauber und Segen aus dem Magdeburger Lande. Aus dem Volksmunde gesammelt, in: ebd. 15, 1880, 76–97; Aberglauben des Magdeburger Landes, aus dem Volksmunde gesammelt, in: ebd. 16, 1881, 227–252; Spiele aus dem Magdeburger Lande mit Beiträgen aus anderen Gegenden Norddeutschlands, in: ebd. 17, 1882, 410–437 und 18, 1883, 1–16, 146–184; Bericht über den Urnenfriedhof bei Bülstringen, in: Zs. für Ethnologie 27, 1895, 121–148; Zur Vorgeschichte von Neuhaldensleben und Umgegend, in: GeschBll 31, 1896, 125–147, 347–362; Zur Kunde der Mundarten und des Volkstums im Gebiete der Ohre, in: GeschBll 32, 1897, 326–364; Die Altertums-Sammlung des Gymnasiums, in: Fs. zur Feier des 25jährigen Jubiläums des Gymnasiums in Neuhaldensleben, 1897; Zur Vorgeschichte von Hundisburg bei Neuhaldensleben, in: GeschBll 33, 1898, 82–103.
Literatur: Clemens Knobloch, P. W. (l848–1916) und die sprachpsychologische Diskussion um 1900, 1989; Brigitte Nerlich, Change in language. Whitney, Bréal, and W., 1990; Irmingard Hildburg Grimm-Vogel, P. W. 1848–1916. Wesen, Wirken, Wege, 1998 (W).
Bildquelle: *Museum Haldensleben.
Guido Heinrich
letzte Änderung: 02.03.2005