Kreyssig, Lothar
Ernst Paul, Dr. jur. |
Der Sohn eines Kaufmanns und Getreidegroßhändlers besuchte nach der Grundschule das Gymnasium in Chemnitz. 1916 meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst, legte das Notabitur ab und studierte 1919–22 in Leipzig Rechtswissenschaften. Danach folgten die normalen Stationen der juristischen Ausbildung. 1923 wurde der junge Jurist promoviert und arbeitete ab 1926 im Landgericht Chemnitz, ab 1928 als Richter. Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 weigerte er sich unter Berufung auf seine richterliche Unabhängigkeit, in die NSDAP einzutreten. Er konnte als Untersuchungsrichter weiterarbeiten, wurde 1937 als Vormundschaftsrichter nach Brandenburg versetzt und erwarb in Hohenferchesar bei Brandenburg einen Gutshof, um eine ökologische Landwirtschaft aufzubauen. K., der erst Ende der 1920er Jahre aus einem allgemein bürgerlichen Christentum zu intensivem persönlichem Glauben gefunden hatte, schloß sich 1934 der Bekennenden Kirche (BK), einer Widerstandsbewegung innerhalb der evangelischen Kirche gegen die deutsch-christlichen Vertreter in Theologie und Kirchenbehörden, an. In Sachsen wurde er 1935 zum Präses der Synode der BK gewählt und wirkte auch in Berlin und Brandenburg tatkräftig in der BK mit. Wegen seiner kirchenpolitischen Aktivitäten – K. war wiederholt an Auseinandersetzungen mit deutsch-christlichen Pfarrern beteiligt – wurden mehrfach Ermittlungsverfahren gegen ihn angestrengt, die ohne Folgen blieben. Als Jurist leistete K. mutigen Widerstand gegen die “Euthanasie”-Morde an Geisteskranken, die sich in seinem Amtsbezirk ereigneten, und erstattete 1940 als einziger deutscher Richter Anzeige wegen Mordes gegen Reichsleiter Philipp Bouhler. Diese Aktion führte zu K.s Beurlaubung und schließlich 1942 zu seiner Versetzung in den Ruhestand (bei vollem Ruhegeld!). Es bleibt erstaunlich, daß weitere Repressalien ausblieben. K. wandte sich verstärkt der Kirche und der Arbeit auf seinem Gutshof zu, beherbergte dort bis Kriegsende zwei jüdische Frauen und integrierte Kriegsgefangene in die Hofgemeinschaft. Nach dem Ende des II. Weltkrieges wurde er sowohl als aktiver Widerständler gewürdigt, aber auch als “Junker” bedroht. Dreimal sollte er erschossen werden, mehrmals mußte er um den Hof bei der Bodenreform kämpfen, schließlich wurde ihm ein Restteil an Acker und Wald sowie die Gebäude belassen. Als unbelasteter Jurist entschied sich K. nach 1945 wegen schwerwiegender rechtsstaatlicher Bedenken gegen eine Wiederanstellung im Justizdienst Brandenburgs und nahm das Angebot von Bischof Otto Dibelius an, als Konsistorialpräsident der Kirchenprovinz Sachsen nach Magdeburg zu gehen. Bereits 1947 wählte ihn die Synode der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen zu ihrem Präses. Daneben widmete er sich einer Vielzahl weiterer Aufgaben. 1952 leitete er für kurze Zeit die Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, von 1952 bis 1970 war er auch deren Präses. Er gehörte 1949–61 dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland als einer der wenigen Vertreter der östlichen Landeskirchen an. Im Deutschen Evangelischen Kirchentag, der größten deutschen evangelischen Laienbewegung, war K. 1949–58 als Vizepräsident Ost mitverantwortlich für die großen Kirchentage in Berlin 1951 und Leipzig 1954. K. brachte als Synodalpräses der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen und der Altpreußischen Union zahlreiche visionäre, aber häufig auch schwer zu realisierende Ideen in die Evangelische Kirche ein. Er übte dieses Amt bis 1964 aus und erregte während dieser Zeit oft das Mißtrauen und den Widerspruch der DDR-Behörden. Umstritten waren seine Bemühungen um die Einheit der Christen in einer Ökumene, die auch die jüdische Religion mit einbeziehen sollte, seine Kritik an der Wiederbewaffnung Deutschlands sowie seine ablehnende Haltung zur deutschen Teilung. In der Kirchenprovinz Sachsen gründete K. die Evangelische Akademie als Stätte von Gespräch und Austausch. Mit einem Laienbesuchsdienst versuchte er, durch ein- bis zweiwöchige Einsätze in einzelnen Gemeinden missionarisch zu wirken. Für psychisch Belastete entstand der Hilfsring. Seine Aktionsgemeinschaft für die Hungernden war eine Vorstufe der späteren Aktion “Brot für die Welt”. Auch die Telefonseelsorge geht auf eine Anregung K.s zurück. Sein bedeutendstes und wohl auch nachhaltigstes Werk war die Gründung der “Aktion Sühnezeichen”. 1958 rief er nach längeren Vorüberlegungen dazu auf, um zur Versöhnung mit den Ländern zu finden, denen Deutschland im II. Weltkrieg schwerwiegendes Unrecht angetan hatte. Junge Deutsche reisten als freiwillige Botschafter des guten Willens in die kriegsgeschädigten Länder Europas, um durch gemeinnützige Arbeit beim Wiederaufbau zu helfen. Norwegen, die Niederlande, Griechenland, Frankreich und England waren die ersten Einsatzorte, später kam u. a. auch Israel dazu – für K. ein vorrangiges Ziel. Nach dem Bau der Mauer, die K. von den internationalen Aktivitäten der “Aktion Sühnezeichen” ausschloß, zog er sich aus der Leitung zurück und begann ab 1962 mit dem Aufbau einer eigenen Sühnezeichenarbeit in der DDR. Im ersten ostdeutschen Sommerlager der “Aktion Sühnezeichen” entrümpelten junge Helfer zerstörte Kirchen in Magdeburg (u. a. St. Petri und die Wallonerkirche). 1965 unternahm K. mit einer Sühnezeichen-Gruppe eine erste Pilgerfahrt durch Polen und besuchte mit den Teilnehmern auch das Vernichtungslager Auschwitz. 1971 siedelte K. mit seiner Frau Hanna zunächst nach Westberlin und 1977 in ein Altersheim nach Bergisch-Gladbach über, wo er am 5. Juli 1986 starb.
Werke: Gerechtigkeit für David. Gottes Gericht und Gnade über dem Ahnen Jesu Christi. Nach dem 2. Buch Samuelis, 1949; Aufruf zur Aktion Sühnezeichen, 1958.
Nachlaß: EZA Berlin.
Literatur: Franz von Hammerstein/Volker Törne, 10 Jahre Aktion Sühnezeichen, 1968; Karl-Klaus Rabe, Umkehr in die Zukunft. Die Arbeit der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, 1983; Lothar Gruchmann, Ein unbequemer Amtsrichter im Dritten Reich. Aus den Personalakten des L. K., in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 32, 1984, 463ff.; Susanne Willems, L. K. Protest gegen die Euthanasieverbrechen im nationalsozialistischen Deutschland, 1986; Konrad Weiß, L. K. – Prophet der Versöhnung,1998 (B); Unrecht beim Namen genannt. Gedenken an L. K. am 30. Oktober 1998, 1998.
Bildquelle: *Evangelischer Pressedienst Magdeburg.
Martin Kramer