Wille, Bruno, Dr. phil.
geb. 06.02.1860 Magdeburg,
gest. 31.08.1928 Schloß Senftenau bei Lindau/Bodensee,
Schriftsteller, Prediger, Volkspädagoge.

W.s Vater, Julius W., war Gerichtsbeamter, dann Sekretär des Grafen Burghaus, schließlich Registrator der neugegründeten Magdeburger Feuerversicherung; seine Mutter, Pauline von Kotze, kam aus einer dem magdeburg-halberstädtischen Lehnsadel entstammenden Offiziersfamilie. W. besuchte in Magdeburg das Gymnasium des Klosters Unser Lieben Frauen sowie nach der vorzeitigen Pensionierung des Vaters Gymnasien in Tübingen (ab 1873) und Aachen (ab 1875). Er studierte 1881 bis 1885 evangelische Theologie, Philosophie, Mathematik und Physik in Bonn und Berlin. 1885 promovierte er in Kiel über Thomas Hobbes. Nach kurzer Tätigkeit als Hauslehrer in der Familie des Leibarztes am rumänischen Königshof übersiedelte er 1886 nach Berlin und engagierte sich bis zum I. Weltkrieg im politischen und kulturellen Leben der Stadt. Danach zog er sich zunehmend auf seine schriftstellerische Tätigkeit zurück. Die Problemlage nach dem I. Weltkrieg motivierte ihn zwar zur Reaktivierung seines volkspädagogischen Engagements, doch beschränkt auf Friedrichshagen, den über Jahrzehnte beibehaltenen Wohnort im Südosten Berlins. Mit seiner zweiten Frau Emmi Friedländer lebte er seit 1920 zurückgezogen in Süddeutschland. W. zählte ab 1886 zu den Leitfiguren der Kulturszene Berlins. Im Kreis des sich dort in den 1880er Jahren formierenden Naturalismus plädierte er im Verein Durch, dem Genie-Konvent und Ethischen Club für eine engagierte, doch nicht parteipolitisch gebundene Literatur. Aus Solidarität mit der unter den Auswirkungen der Sozialistengesetze leidenden Sozialdemokratie gründete er 1890 mit dem Kreis der “Friedrichshagener”, in Anlehnung an die 1889 zur Umgehung von Zensurbestimmungen und zur Durchsetzung der literarischen Moderne etablierte Freie Bühne, die Freie Volksbühne. Sie machte das Proletariat mit den Dramen Ibsens, Strindbergs und Hauptmanns bekannt. W. zählte zur Kerngruppe der Schriftstellerkolonie in Friedrichshagen am Müggelsee. Dort wohnten u. a. die Brüder Heinrich und Julius Hart, Christian Morgenstern, Gustav Landauer, Erich Mühsam und August Strindberg, als Besucher kamen Frank Wedekind, Max Liebermann, Richard Dehmel, Arno Holz und, im Zeichen der Skandinavienmode der Zeit, Edvard Munch. W. war Anführer der 1890, nach Aufhebung der Sozialistengesetze, beginnenden Kontroverse der linksintellektuellen “Jungen” mit der Partei. Nach einem mehrstündigen Rededuell mit August Bebel kam es 1892 zum Bruch. Die von Friedrich Engels als “Literaten- und Studentenrevolte” verschrieene, dem Anarchismus nahestehende Opposition gründete daraufhin unter Leitung von W. die Neue freie Volksbühne. Hier engagierten sich Schriftsteller weiter im volkspädagogischen Sinne, unter ihnen Rudolf Steiner. Sie verstanden sich, maßgeblich unter dem Einfluß von W., als “Sozialaristokraten”, die, durchweg aus dem Bürgertum kommend, dem Proletariat durch Bildung zum sozialen Aufstieg verhelfen wollten. Als Prediger und Vorsteher der Freireligiösen Gemeinde und Protagonist der Freidenkerbewegung beeinflußte W. die beginnende Lebensreformbewegung. 1900 gründete er mit dem Friedrichhagener Freund Wilhelm Bölsche im Geiste einer neuen Mystik den Giordano-Bruno- Bund für ganzheitliche Weltanschauung und wurde aktiv in der Reformsiedlung “Neue Gemeinschaft”. Die Freundschaft mit dem Biologen und Darwinschüler Ernst Haeckel führte 1906 zur maßgeblich von W. mitgetragenen Monistenbewegung, in denen sich die staatsverdrossenen, freidenkerischen Kräfte der Zeit sammelten. Reformideen wie die Gartenstadt- und die Kunsterzieherbewegung unterstützte W., sah aber seine volkspädagogische Aufgabe im Bereich der Erwachsenenbildung. 1902 begründete er mit der “Freien Hochschule” eine der ersten Volkshochschulen. Später wirkte er als Dozent an der Berliner Universität. Als schwärmerisch-religiöser, charismatischer Prediger und Redner zog er die Massen an, doch mit dem I. Weltkrieg war die Zeit seiner Wirkung vorüber. Auch sein schriftstellerisches Engagement blieb unbeachtet, da seine zur Trivialität neigenden Romane von bereits überholten naturspekulativen und spiritistischen Tendenzen geprägt waren. Die Aufarbeitung eigener Erfahrungen polizeistaatlicher Strukturen im Kaiserreich in der Satire “Das Gefängnis zum preußischen Adler” (1914) bleibt ein lesenswerter Schlüsseltext für die alternativen Lebens- und Denkkonzepte der großstädtischen Intellektuellen vor der Jahrhundertwende.

Werke: Philosophie der Befreiung durch das reine Mittel. Beiträge zu einer Pädagogik des Menschengeschlechts, 1894; Einsiedler und Genosse. Gedichte, 1897; Offenbarungen des Wacholderbaums. Roman (2 Bde), 1901, Die Christusmythe als monistische Weltanschauung. Essays, 1902; Die Abendburg. Roman, 1909; Aus Traum und Kampf. Mein 60jähriges Leben. Biogr., 1920.

Literatur: Killy 12, 335; Siegfried Nestriepke, Geschichte der Volksbühne Berlin, 1930; Herbert Scherer, Bürgerlich- oppositionelle Literaten und sozialdemokratische Arbeiterbewegung nach 1890, 1974; Kurt Sollmann, Literarische Intelligenz vor 1900, 1982; Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele, 1993; Gertrude Cepl-Kaufmann/Rolf Kauffeldt, Berlin-Friedrichshagen, 1994.

Bildquelle: *Stadt- und Universitätsbibliothek Dortmund: Nachlaß Julius Hart.

Gertrude Cepl-Kaufmann