Ricker, Gustav Wilhelm August Josef, Prof. Dr. med. habil.
geb. 02.11.1870 Hadamar/Hessen-Nassau,
gest. 23.09.1948 Dresden,
Arzt.

R., Sohn des ersten Oberlehrers am Gymnasium zu Hanau, erhielt dort seine humanistische Bildung und studierte ab Ostern 1889 an den Universitäten Freiburg/Breisgau, München, Bonn und Berlin Philosophie und Medizin 1893 promovierte er mit der Dissertation “Vergleichende Untersuchungen über Muskelatrophie” in Berlin unter dem Chirurgen Ernst von Bergmann. An den Instituten der Universitäten von Zürich, Halle und Rostock bildete sich R. zum Pathologen aus und habilitierte sich 1897 in Rostock bei Albert Thierfelder mit der Arbeit “Beiträge zur Lehre von den Geschwülsten in der Niere”. Der spätere Chirurg und als Medizinhistoriker Direktor des Leipziger Karl-Sudhoff-Instituts, Walter von Brunn, war in Rostock R.s erster Doktorand. R. wurde zwar der Professorentitel verliehen, eine Berufung zum Nachfolger von Thierfelder kam wegen R.s katholischer Konfession und seiner für die Sozialdemokratie geäußerten Sympathie in Rostock aber nicht zustande. Er ging statt dessen zum 01.06.1906 nach Magdeburg und übernahm die Leitung der Pathologischen Anstalt für die Städtischen Krankenhäuser Altstadt und Sudenburg, die er bis 1933 innehatte. Während des I. Weltkrieges war R. zeitweise als Armeepathologe eingesetzt. Nach dem Kriege unterstützte er in Magdeburg die Bestrebungen zur Errichtung einer Medizinischen Akademie und war seit 1930 an den Aktivitäten des Städtischen Instituts für medizinischen Unterricht und ärztliche Fortbildung beteiligt. Nach seiner vorzeitigen Pensionierung durch die nationalsozialistische Stadtverwaltung arbeitete R. als Privatgelehrter in Berlin und zuletzt in Dresden. 1937 wählte ihn die Gesellschaft der Ärzte in Wien zum korrespondierenden Mitglied. Ein halbes Jahr vor seinem Tode wurde im April 1948 das Sudenburger Krankenhaus nach ihm benannt. Weit über sein lokales praktisches Wirken hinaus liegt R.s Bedeutung für die Wissenschaftsentwicklung seines Faches vor allem in dem Versuch, die einengende Sichtweise der von Rudolf Virchow (1821–1902) begründeten Zellularpathologie mit dem geisteswissenschaftlich untermauerten Konzept seiner eigenen “Relationspathologie” aufzubrechen. Sein erster konkreter Beitrag daraus zur generellen Lehrmeinung der Pathologie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war das “Stufengesetz der Entzündung”. Hier wurde das Interesse auf die Gefäßnerven gerichtet, deren Funktion als erstes Glied einer Kette kausal verbundener Körpervorgänge betrachtet wurde. R.s Auffassung nach mußte die naturwissenschaftliche Pathologie die kausalen Relationen krankhafter Prozesse untereinander und zur Umwelt erforschen, die nach seinem Verständnis immer mit einem Nervenvorgang und nicht mit einem Zellvorgang beginnen. Seine Beschränkung auf die integrierende Funktion des Nervensystems kann jedoch als genau so reduktionistisch gelten wie die von R. kritisierte Zellenlehre Virchows. Die Pathologie als Naturwissenschaft wollte R. von ihrer rein medizinischen Zweckdienlichkeit befreien. Den Menschen sah er als physisch-psychische Einheit und demzufolge als Gegenstand von Natur- und Geisteswissenschaften. Die Berücksichtigung der psychischen Wesenheit des Menschen war zu R.s Zeiten durchaus nicht Allgemeingut ärztlichen Denkens. R. unternahm mit seiner Relationspathologie den Versuch, einzelwissenschaftliche Resultate in eine Ganzheitsbetrachtung unter Einbeziehung erkenntnistheoretisch-philosophischen Aspekte einzubringen. Dadurch vermittelte er den deutschsprachigen Pathologen wichtige Denkanstöße. In diesem Sinne gilt R. als einer der Großen seines Faches. R., der als “schwieriger Mensch” galt, jedoch im persönlichen Umgang sehr zurückhaltend und bescheiden auftrat, lehnte es auch ab, seine Ergebnisse und Entwürfe auf Kongressen zu vertreten, was die Verbreitung und Anerkennung seiner Ansichten beeinträchtigte. In seinen letzten Lebensjahren litt er unter den Folgen einer Gefäßkrankheit, die er sich in Magdeburg durch Experimente mit radioaktivem Mesothorium zugezogen hatte, an Diabetes mellitus und einer neurologischen Erkrankung, die ihn jedoch nicht davon abhielten, bis zuletzt schöpferisch tätig zu sein.

Werke: Entwurf einer Relationspathologie, 1905; Grundlinien einer Logik der Physiologie als reiner Naturwissenschaft, 1912; Pathologie als Naturwissenschaft – Relationspathologie – Für Pathologen, Physiologen, Mediziner und Biologen, 1924; Wissenschaftstheoretische Aufsätze für Ärzte, 1936 (Repr. 1951).

Literatur: Richard Hoffmann, G. R. (1870–1948) – ein Lebensbild, in: Personal- und Vorlesungsverzeichnis Medizinische Akademie Magdeburg, Frühjahrsemester 1964, 18–50 (W,B); Arno Hecht/Werner Kühne, G. R. (1870–1948) – Leben und Werk, in: Pathologe 11, 1990, 313–315 (W); Manfred Beckert, Vor 125 Jahren wurde G. R. geb., in: Volksstimme Genthin 49, 1995, 18.

Bildquelle: *Sammlung Horst-Peter Wolff, Qualzow (privat).

Horst-Peter Wolff

letzte Änderung: 03.03.2005